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Der Lebenszyklus der Zikaden passt zu unserem Dasein – Boss Hog im Interview

17 Jahre ist es her, dass mit „Whiteout“ das letzte Album von Boss Hog erschien. Die Länge der Auszeit ist kein Zufall, denn Frontfrau Cristina Martinez zog in dieser Zeit ihren Sohn groß. Nun ist der 19, aus dem Gröbsten raus, und die Eltern dürfen sich wieder ihrer Leidenschaft widmen. Wobei Cristinas Ehemann und Bandkollege Jon Spencer sich während der Auszeit mit seinen anderen Projekten wie The Jon Spencer Blues Explosion oder Heavy Trash musikalisch austobte.

Im letzten Jahr erschien mit der EP „Brood Star“ ein erstes Lebenszeichen von Boss Hog (angekündigt von Jon bereits 2012 im MusikBlog Interview), dem nun das Album „Brood X“ folgt. Darauf verquirlt die New Yorker Band auf gewohnt garstige Art Blues, Punk, Garagenrock und Funk zu einem wilden Cocktail. Wir sprachen mit Jon Spencer über die düstere Atmosphäre von „Brood X“, die Parallelen zwischen den Protesten gegen Reagan und Trump und Ähnlichkeiten zwischen Boss Hog und Zikaden.

MusikBlog: Bevor ihr euch im letzten Jahr mit der EP „Brood Star“ zurückgemeldet habt, habt ihr 16 Jahre keine Musik veröffentlicht und seid nur selten aufgetreten. Habt ihr euch dennoch regelmäßig als Band getroffen?

Jon Spencer: Nicht während der gesamten Periode, aber wir haben ungefähr 2008 wieder begonnen, uns zu treffen und zusammen Musik zu machen. Da haben wir dann ja auch wieder einige Shows gespielt. In den letzten vier Jahren haben wir uns regelmäßig getroffen, um Krach zu machen. Und dieser Krach führte dann zu den beiden neuen Veröffentlichungen „Brood Star“ und „Brood X“.

MusikBlog: Die Alben von Boss Hog erschienen schon vor „Brood X“ mit größeren Pausen, in denen du dich deinen anderen Projekten wie der Jon Spencer Blues Explosion oder Heavy Trash gewidmet hast. Sind diese Pausen notwendig, um auch nach 27 Jahren noch als Band zu funktionieren?

Jon Spencer: Das kann ich schwer beurteilen, weil ich es ja bei Boss Hog nicht anders kenne. Aber zumindest bei der Blues Explosion habe ich festgestellt, dass uns Pausen helfen. Wir kamen stets frischer und kreativer aus solch einer Auszeit zurück.

MusikBlog: Und dauert es nach einer Auszeit lange, bis ihr euch als Band wieder eingegroovt habt?

Jon Spencer: Naja, wenn wir ein Konzert oder gar eine Tour spielen möchten, dann brauchen wir natürlich Zeit, um uns wieder einzuspielen. Es kostet Zeit, die ganzen Songs wieder zu lernen – das ist harte Arbeit. Aber wenn es um den kreativen Teil als Band geht, als um das Schreiben von Songs, dann brauchen wir keine Eingewöhnungszeit. Da kann es sogar nützlich sein, dass man noch ein wenig eingerostet ist. Das führt dann womöglich zu einem ganz neuen Sound.

MusikBlog: Schon 2012 hast du im MusikBlog Interview zum Album „Meat + Bone“ der Blues Explosion erwähnt, dass Boss Hog an neuem Material arbeiten. Habt ihr wirklich vier Jahre an den Songs geschrieben?

Jon Spencer: Das haben wir, es war ein sehr langsamer Prozess. Wir haben uns drei oder vier Mal im Monat getroffen, aber manchmal fühlten sich die Proben eher wie die Treffen eines Clubs an. Wir kamen zusammen, haben getrunken, uns unterhalten und eben auch zusammen Krach gemacht. Die Band hat sich nicht verändert, seit wir in den späten 80ern begonnen haben, Musik zu machen. Wir sind immer noch Freunde, die zusammen rumhängen und Spaß haben wollen. Dieser soziale Aspekt war bei Boss Hog immer sehr wichtig.

MusikBlog: Entstanden die vier Songs der EP „Brood Star“ zeitgleich mit dem Album?

Jon Spencer: Genau, wir haben alle Songs in diesem Zeitraum geschrieben.

MusikBlog: Trotzdem unterscheidet sich „Brood Star“ von „Brood X“. Habt ihr die etwas experimentelleren und unkonventionellen Songs auf die EP gepackt, damit das Album fokussierter und kohärenter klingt?

Jon Spencer: Wir wollten, dass sich beide Werke in der Stimmung und im Klang unterscheiden. Deshalb haben wir die etwas ungewöhnlicheren Songs zuerst veröffentlicht, die übrigen Songs für das Album „Brood X“ aufgehoben. Die EP sollte fast wie ein Remix klingen, während sich der Sound des Albums darauf konzentrieren sollte, wie wir als Band – auch auf Konzerten – klingen. Beide Veröffentlichungen klingen außerdem anders, weil wir sie mit verschiedenen Produzenten abgemischt haben. Es war also eine sehr bewusste Entscheidung.

MusikBlog: Trotzdem gibt es ja auch am Ende von „Brood X“ einen sehr ungewöhnlichen Moment, wenn der Song „17“ langsam von Feedback und Zikaden-Zirpen aufgesogen wird.

Jon Spencer: Das ist mein liebster Moment auf dem Album, ein wirklich cooler Song. Tatsächlich entstand dieses Ende während einer Improvisation. Alle anderen Songs haben wir fertig geschrieben, bevor wir ins Studio gingen. Bei diesem Song kann man uns aber dabei zuhören, wie wir uns im Studio etwas ausdenken, während wir es spielen.

MusikBlog: Der Titel „17“ bezieht sich wie auch „Brood Star“ und „Brood X“ auf das Brutverhalten von Zikaden, die alle 17 Jahre schlüpfen.

Jon Spencer: Genau, diese Zikaden sind hier in Nordamerika sehr verbreitet. Sie leben den größten Teil ihres Lebens unter der Erde, manche für zwei, manche für drei Jahre, und diese spezielle Art für 17 Jahre. Seltsamerweise wissen alle Zikaden einer Brut ganz genau, wann sie an die Oberfläche kommen müssen und erscheinen alle am gleichen Tag. Sie schlüpfen, entwickeln ihren Chitinpanzer, anschließend beginnen sie sofort mit der Partnersuche und pflanzen sich fort.

Obwohl sie 17 Jahre unter der Erde warteten, leben sie nur wenige Wochen. Das Zirpen am Ende des Albums ist der Ruf der ausgewachsenen Zikaden, die auf Partnersuche sind. Für Cristina ist das ein sehr vertrautes Geräusch, sie wuchs damit auf. Insofern sind der Titel und dieser letzte Song eine nostalgische Referenz an die Sommernachmittage ihrer Kindheit, an denen sie dieses Zirpen hörte. Gleichzeitig passt der Lebenszyklus dieser Tiere auch zum Dasein von Boss Hog, weil auch diese Band lange im Verborgenen schlummert, um dann mal wieder für ein Album aufzutauchen. Und sie machen auch Lärm, das ist vielleicht sogar die größte Parallele. In manchen Sommernächten raubt dir das Zirpen den letzten Nerv.

MusikBlog: Dass die Alben von Boss Hog mit großem Abstand erscheinen, bedeutet ja auch, dass sich die Musikszene um euch in der Zwischenzeit wandelt. Denkt ihr darüber nach, wie euer Sound in die Musiklandschaft des Jahres 2017 passt?

Jon Spencer: Nein, überhaupt nicht. Wir haben dieses Album aufgenommen, weil wir Bock drauf hatten. Das war schon so, als wir Boss Hog gegründet haben. Die Band ist unsere Leidenschaft oder Obsession, aber es gibt keinen Zwang. Wir schulden keiner Plattenfirma ein Album, sind nicht vertraglich dazu verpflichtet.

MusikBlog: Da „Whiteout“ vor 17 Jahren erschien, wäre es möglich, dass Jugendliche heute eure Konzerte besuchen, die damals noch gar nicht geboren waren. Seht ihr viele junge Gesichter im Publikum?

Jon Spencer: Ein paar junge Gesichter sind immer mal wieder dabei, aber zum größten Teil ist das Publikum gleichgeblieben, die Zuschauer sind mit uns älter geworden. Ich wünsche mir aber, dass mehr junge Menschen auftauchen, sobald die neue Platte draußen ist. Bisher fehlte ja eine Veröffentlichung, mit der uns junge Menschen entdecken konnten.

MusikBlog: Euer letztes Album „Whiteout“ war euer eingängigstes, beinahe poppiges Werk, „Brood X“ klingt dagegen düster und verstörend. Gab es ein bestimmtes Ereignis, das die Stimmung des Albums geprägt hat?

Jon Spencer: Das müsstest du meine Frau Cristina fragen, schließlich schreibt sie die Texte. Während der Arbeiten an den Songs gab es Entwicklungen in den USA, die leicht dafür sorgen, dass man pessimistisch und deprimiert Richtung Zukunft blickt. Während der Aufnahme und des Mischens wurde Donald Trump zum Präsidenten gewählt, was die USA nun endgültig in sehr dunkle Zeiten stürzt.

Da waren die Texte zwar schon lange geschrieben, die Wahl liess Cristinas Songs und ihre Texte aber plötzlich in einem ganz neuen Licht erscheinen. Man kann sie auch auf diese Ereignisse beziehen, wodurch sie bedeutungsvoller, aber auch düsterer klingen. Das mag ich besonders an diesem Album, dass es sich durch die jüngsten Ereignisse völlig verändert hat. Bei keinem von uns passierte im Privatleben etwas, was die Atmosphäre des Albums erklären könnte.

MusikBlog: Trotzdem gibt es ja kaum explizite Hinweise auf die Ereignisse in den USA, am deutlichsten vielleicht in „Ground Control“: „I woke up this morning/ Turned on the radio/ All I hear is bad news.“

Jon Spencer: Das liegt eben daran, dass die Songs älter sind, wir die Entwicklung und die Tragweite dieser Ereignisse höchsten erahnen konnten. Aber wir wuchsen alle unter Ronald Reagan auf, in einer Punk- und Hardcore-Szene, die gegen diese politischen und gesellschaftlichen Zustände rebellierte. Das hat unsere Sicht auf die Welt bis heute geprägt.

MusikBlog: Erinnert dich der Protest der Musikszene gegen Donald Trump an die Rebellion der Punks gegen Reagan?

Jon Spencer: In vieler Hinsicht erinnert der Protest wirklich an damals. Wir haben zum Beispiel an einem Protestalbum gegen Trump mitgewirkt, das am Inauguration Day erschien und dessen Einnahmen für den guten Zweck gespendet werden. Das Album heißt „Battle Hymns“ und wurde von Sam Coomes und Janet Weiss von Quasi zusammengestellt. Solche Projekte gab und gibt es seitdem erfreulicherweise immer wieder, meist gehen die Einnahmen an Planned Parenthood oder The ACLU. Vermutlich werden wir im Frühling und Sommer mit Boss Hog einige Benefizshows spielen. Die heutigen Proteste unterscheiden sich aber auch von damals, einfach weil alles viel größer ist. Der Protest gegen Reagan passierte an marginalisierten Orten und im Untergrund, auf Punk- und Hardcore-Shows eben. Der heutige Protest findet ja auch mitten im Mainstream statt.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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