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Reeperbahn Festival 2020

Reeperbahnfestival. Vier Tage Exzess in jeder Dimension. Über 600 Konzerte in über 70 Clubs. Vom „Rattenloch“ über größere Clubs bis hin zur Kirche, alles dabei. Krachender Punk über Indie, Rap bis zu klassischen Streichern. Musiker aus aller Welt. Lokale Newcomer bis zum Aussie BBQ im Molotow. Das bedeutet für alle Gäste eine Vielzahl an Konzerten in kurzer Zeit, tanzen, ausgelassen feiern bis in den frühen Morgen.

Nicht 2020. Es wird das erste große „pandemiegerechte“ Clubfestival in Europa. Mit viel Aufwand und Mühe entwickelten Veranstalter und Stadt über Monate ein Konzept, das immerhin einen Schein Normalität zurückbringt.

Alles reduziert. 48.000 Gäste werden zu 2.500, 70 Locations zu 20, viele davon im Freien. Statt über 600 Konzerten ca. 120. Partys gibt es gar keine. Dazu die gebotene Vorsicht. Abstand, Masken, Innenräume bestuhlt, auf Freiflächen markierte Stehplätze, zwei Stunden Lüften zwischen jedem Konzert. Und nur Bands mit kurzen Anreisewegen, Übersee fällt komplett aus.

So der Stand im Vorfeld. Es wird ein Feldversuch für die große Frage: Kann das funktionieren und macht das noch Spaß?

Mittwoch, 16. September

Festival Village Heiligengeistfeld Mittwochnachmittag. Erster Eindruck – schaut aus wie immer, Stimmung gewohnt quirlig motiviert. Zweiter Eindruck – doch nicht. Viel weniger Leute, weite Abstände, überall Masken. Man muss für jeden Bereich einzeln ein- und auschecken, die Security wirkt aufgeregt und sehr sorgfältig. Koko rumpelt sympathisch elektronisch auf der Fritz! Bühne. Kaum Publikum im abgesperrten Bereich, weit verteilt über die Sitzgelegenheiten.

Am Spielbudenplatz fällt das neue Konzept sofort ins Auge. Alles ist eingezäunt, um die Kapazität und Check-ins sicherzustellen. Die eine Hälfte ist jetzt die Bühne Spielbude XL. Um die erwartete lange Schlange zu verdauen, ist sogar die Reeperbahn abgesperrt. Die große, noch leere, Fläche mit markierten Stehplätzen wirkt dystopisch. Die andere Hälfte ist der Biergarten mit dem N-Joy-Bus, ebenfalls eingezäunt und kontrolliert. Im Biergarten wieder alles wie immer, nur kleiner.

Docks und Große Freiheit 36 plakatieren an ihren Clubs seit einigen Monaten ihre kontroverse Sichtweise zu den Corona-Maßnahmen. Vielleicht ist das der Grund, warum beide nicht dabei sind dieses Jahr. Sehr schade, wären das doch zwei Räume in idealer Größe.

Etwas später, Lùisa spielt auf der Spielbude XL. Das Publikum in der vorderen Hälfte in Reih und Glied auf Punkte verteilt normalisiert das Bild nur bedingt.

Eine halbe Stunde Anstehen und endlich Einlass ins Molotow. Ins Backyard durfte etwa die halbe Schlange rein, dann war voll. Selbst für die wenigen Leute dauert der Einlass 20 Minuten. Jede Gruppe darf nur einzeln rein, mit Checkin via Handy. Bestuhlt mit Klappstühlen im roten Licht wird sofort klar, dass nicht viele den Auftritt von PAAR sehen werden.

Als alle sitzen, hat es den Appeal einer Schule auf Klassenfahrt. Aber für das erste Konzert des Festivals klappt alles schon echt gut. Alle sind sehr aufmerksam, respektvoll und voller Erwartung. Ganz deutlich wollen alle dazu beitragen, dass das Konzept funktioniert.

Eine Ansage vom Band erklärt vor jedem Gig die Regeln. Neben dem Offensichtlichen heißt es Sitzenbleiben, bis Reihe für Reihe wieder geordnet raus darf.

Endlich wird es laut. Erste Feedbacks dröhnen in den Raum. Molotow-üblicher Schalldruck versus Klappstühle. Erste Blicke der Band ins Publikum etwas scheu. Zusammen mit ihrem Drumcomputer geben sie gleich richtig Gas. Krachiger und post-punkiger als auf der Platte. Das Schleppende tritt mehr in den Hintergrund. Moderner, leicht nostalgischer, Wave-Sound mit üppigen Anleihen aus der Vergangenheit. Köpfe, Füße, Beine, Arme – irgendwie zappelt es auf jedem Stuhl. Der frenetische Applaus ist nicht nur dem Ende der Abstinenz zu verdanken. Ein toller Start in das Festival-Wochenende.

Nochtspeicher. Gleiches Prozedere, man wird persönlich an den Platz geleitet. Der Raum liebevoll aufgepeppt. Kleine Tischchen mit roten Tischdecken und Weinglaslampen von einer lokalen Designerin. Getränkeservice am Tisch. Optik mehr Burlesque Show als krachiges Konzert.

Dann Die Arbeit. „Gott Generator!“. Kräftiger, klassischer Post-Punk aus Deutschland mit intellektuellem Drive. Die Rhythmus-Sektion treibt unaufhörlich unter dem stoisch lakonischen Gesang. Dritte Ansage: „Das ist ja fast wie ein Cabaret Abend“. „Leichen“ das Highlight. Die vordersten Reihen zappeln wie wild auf den Stühlen. Auch wenn das Festival jetzt schon zu Ende wäre, gelohnt hätte es sich allemal.

Donnerstag, 17. September

Zweiter Tag. Bestes Wetter, die Sonne knallt. Was ein Glück für einen Event, der viel mehr als die letzten Jahre auf Freiluft setzt.

Calby is sehr melancholisch im n-joy Reeperbus vor gefüllten Bänken. Alles chillt noch. Danach Betterov auf der Fritz! Bühne. Alle Standmarkierungen gut mit Publikum gefüllt. Diesmal mit Band zur Unterstützung. Das hilft ungemein. Sehr schön basslastiger, voller Sound. Intelligente Dramatik mit Wumms. Leider läuft es sich etwas schnell in eine repetitive Schleife und die Spannung nimmt ab.

Voodoo Jürgens in der Spielbude XL. Zweitgrößte Bühne im Freien. Selbst auf die Stehmarkierungen am Boden werden alle persönlich eingewiesen. Dystopie nicht nur visuell.

Schwarzhumoriger Wiener Schmäh auf der Reeperbahn. Abwechslungsreiche Musik in handwerklicher Perfektion. Irgendwo zwischen Jazz, Polka und einfach mitreißenden Kompositionen. Spannungskurve hier genau andersrum, stark steigend. Spätestens bei „Heite Grob Ma Tote Aus“ sind auch die letzten abgeholt. So gut das auch geht, doch etwas den Umständen entsprechend. So richtige Bewegungsstimmung kommt nur bedingt auf in dieser choreografierten Punkte-Aufstellung mit viel Abstand.

Sofia Portanet. Ins Stage Operettenhaus dürfen 270 Gäste. Ein Viertel der Kapazität. Jede zweite Reihe bleibt frei, und nur die Hälfte der übrigen Sitze werden besetzt. Und selbst diese Plätze sind nicht ausgenutzt. Sofias optischer Auftritt erfüllt alle Retro-Erwartungen, die ihr Sound geweckt hat. Lackhose, weiße Plusterschultern, leicht toupierte Haare. Die aktuell stark gehypte Nachwuchskünstlerin zieht das Image konsequent durch. Das tut ihrem Auftritt zum Glück keinen Abbruch. Unterstützt von einer vierköpfigen Band gibt es das gesamte Debütalbum. Retropop von Wave über deutschen Schlager hin zu perfekten französischen Chansons. Ausreißer und Highlight „Planet Mars“ in Konkurrenz mit Diamanda Galas. Sound sehr nahe an der Platte. Sehr schönes Konzert. In dieser Umgebung macht sich die Leere bemerkbar. Stimmung will nur sehr bedingt aufkommen.

Freitag, 18. September

Dritter Tag. Das Wetter hält. Nochtspeicher. Das Check-in-Prozedere geht schon viel leichter von der Hand. Wie auch sonst überall extrem zuvorkommend und höflich. Security wird dieses Wochenende Teil vom Service.

Tuvaband. Die für den Anchor Award nominierte Norwegerin Tuva Hellum Marschhäuser stellt ihre Kompositionen live mit Band vor. Die sphärische Intensität ihrer Stimme der (etwas zu) absolute Mittelpunkt. Die Sound-Teppiche dahinter mit minimaler Struktur unterlegt. Die hörbar gewordene Tragik des Lebens gleitet ab und zu in kleine Noise-Gewitter. Die starke Anspannung der fünf inklusive Tuva lassen den schönen Auftritt leider etwas konstruiert wirken.

Friends Of Gas mal wieder im Molotow. Sängerin Nina Walser steht am äußersten linken Zipfel der Bühne, fast nicht mehr im Sichtbereich. Schöne Antithese zum klassischen Bühnenaufbau. Ungebetene Unterstützung bekommen sie von außen. Die stillen Lücken von “Carrara” werden ganz problemlos von Die Sauna ausgefüllt. Die geben gleichzeitig im Backyard alles, was die PA hergibt. Die fünf FOG-Mitglieder spielen vor allem neuere Werke, sonst gibt es nicht viel Neues zu schreiben. Die Münchner bleiben einfach weiterhin eine der besten Post-Punk, Low-Fi, Noise, Schublade xy, Bands auf den Bühnen der letzten Jahre. Über die letzten Auftritte hinweg entwickeln sie sich sukzessive etwas aufgeräumter und weniger exzessiv. Diese Entwicklung ergänzt sich gut mit dem neuen Konzertformat im Sitzen.

Die Schlange für ÄTNA ist extrem ausgewachsen und geht fast von der U-Bahn bis zum Mojo Club. Scheint sich auch gelohnt zu haben für die wenigen, die es in den Club geschafft haben. Immerhin wird ÄTNA am nächsten Tag den Anchor Award verliehen bekommen.

Samstag, 19. September

Und schon wieder steht das Ende des Festivals vor der Tür. Der Samstag beginnt entspannt mit Effje de Visser im n-joy Reeperbus. Die 20 Minuten sind wie so oft einfach zu kurz. Sie scheint noch früh genug nach Deutschland gekommen zu sein. Etliche andere Bands aus den Niederlanden werden abgesagt, nachdem Nord- und Südholland am Donnerstag zum Risikogebiet erklärt werden. Nicht alle Lücken können gefüllt werden.

Dillon im Michel. Pflichtprogramm. Soundcheck unter den staunenden Ohren der üblichen Touristen. Konstanten sind dafür da konstant zu bleiben. Scheue Verbeugung, die üblichen roten Stiefel wie bei jedem Konzert. Dabei gab es durchaus größere Änderungen in ihrem Leben. Ihr kleines Baby darf kurz von oben zuschauen. Noch bei Tageslicht offenbart sich der akustische Fit. Der natürliche Hall der großen Kirche trägt ihre Stimme perfekt. Organischer, wärmer, emotionaler als z.B. in der Elphi. Der Flügel füllt den ganzen Raum aus. Eine Stunde Hits von allen drei Platten. Wenige Stücke mit Beats. Dafür perfekt für diese Stimmung eingemischt. Überhaupt wirken alle Stücke modifiziert. Stärker emotionalisiert. Klanglich unaufgeregte, verklärte Intensität. Definitiv das emotionalste Dillon-Konzert von sehr vielen. Was für eine Entwicklung seit den Techno-Strobe Gewittern der ersten Tour.

Zum Abschluss MIU im Uebel & Gefährlich. Pandemie und Aufzüge vertragen sich nicht. Nach einer Stunde sind alle schnaufend und jappsend im vierten Stock vom Bunker angekommen. MIU ist Nina Graf. Multitalentierte Musikerin und Dozentin die in der Hamburger Szene hochaktiv ist. Dass sie und ihre Band für diesen Job brennt, merkt man ab der ersten Sekunde. Sie strahlt eine Freude am Spielen aus, die seinesgleichen sucht. Mit ihrer fünfköpfigen Band liefert sie einen absolut würdigen Abschluss für dieses denkwürdige Wochenende. Um den Takt hochzuhalten gibt es einmal Drums und daneben nochmal Percussion. Ihr „Retro-Soul“ kommt mit Anleihen aus dem Soul, Jazz, manchmal sogar Blues. Vor allem aber mit einer riesigen Portion Bühnen-Energie. Frenetischer Applaus, Zugabenrufe. Klingt nach mehr als 100 Leuten. Aber das RBF wäre nicht das RBF, wenn auf einmal Zugaben erlaubt wären.

War der Feldversuch erfolgreich? Das hängt von der Perspektive ab.

Für die Veranstalter? Organisatorisch und aus Sicht gesundheitliches Risiko? Wahnsinn, wie gut das alles funktioniert hat. Die Organisation und das gesamte Team haben nahezu Unmögliches auf die Beine gestellt. Unterstützt von einem sehr respektvollen Publikum, das selber Teil des Ablaufes geworden ist. An den teilweise sehr strengen Auflagen kann man sicher noch feilen und die Kapazitäten besser ausnutzen.

Fürs Publikum? Man lernt schnell, dass es maximal neun oder zehn Konzerte werden, die man in vier Tagen schafft. Wenn alles super klappt und man früh genug ansteht. Der Spaßfaktor hat extrem starke Unterschiede zwischen den Locations. Die kleineren Clubs funktionieren richtig gut. Große Freiflächen und Theater lassen die Distanz viel mehr zum Stimmungskiller werden.

Für die Bands? Etwas schwieriger als fürs Publikum. Besser als nichts, aber oft noch nicht mehr als ein erster Schritt.

Für die Clubs? Eine absolute Katastrophe. Wer die Clubs kennt, kann bewerten, was diese Zahlen bedeuten. In einen Molotow Club, Molotow Backyard und in den Nochtspeicher durften weniger als 50 Personen, ins Uebel & Gefährlich weniger als 100, Mojo Club gute 80. Da lässt sich an einer Hand ausrechnen, dass der ganze Abend weniger Getränke-Umsatz bringt, als sonst schon vor der Vorband konsumiert wurde.

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