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Reeperbahn Festival 2021

Vor einem Jahr hat wirklich niemand damit gerechnet. Doch steht auch das Reeperbahnfestival 2021 wieder unter dem Schatten der Pandemie und Limitierungen.

Regeln auf den ersten Blick analog wie 2020. Ein neues „3G Bändchen“ zeigt den Status Geimpft, Genesen, Getestet. Die Organisation richtig gut. Mit der Logistik am Heiligengeistfeld ist der Check-in trotz langer Schlangen in weniger als 10 Minuten vorbei.

Mittwochnachmittag auch noch ruhig. Am Spielbudenplatz alles kurz vor Öffnung. Einzig der RBF Impfbus ist in Betrieb. Hier können sich spontan Entschlossene bis abends ohne Anmeldung ihre Impfung mit Johnson & Johnson abholen. Das Angebot flutscht, immer Menschen in der Schlange.

Erstes Konzert im Molotow Club. Geübt vom letzten Jahr, gleich 1,5 Stunden Wartezeit einplanen.

Logistik wie 2020 – einchecken und dann in kleinen Grüppchen zu den zugewiesenen Plätzen. Einziger – und großer – Unterschied – dieses Jahr gibt es wieder eine „Delegates Lane“ zum bevorzugten Einlass für registriertes Fachpublikum – Labels, Agenturen, Presse…

Im Club weitere Unterschiede. Nicht bestuhlt, sondern markierte Reihen zum Stehen. In den vordersten Reihen viel näher an der Normalität. Weiter hinten etwas komisch anmutend. Kapazität damit nicht höher als letztes Jahr. Und dieses Jahr müssen innen konstant Masken getragen werden. Nur zum Nippen am Getränk darf die Maske für Sekunden runter.

Jealous. Vor Beginn die Ansage vom Band. Erklärung der Regeln, „overly uncontrolled movements“ sind unbedingt zu vermeiden. Dane und Paz begleiten die Ansage auf der Bühne mit der Gestik von Flugbegleiterinnen vor dem Start. Und endlich geht’s los. Die Drums drücken einen trocken zur Hintertür raus. Von den beiden Mädels gar nicht zu reden. Akustisch gewordene Ernüchterung, Wut, Frustration und Eifersucht gepaart mit Lebensfreude. Das bricht sich Bahn in Mimik und komplexen, ohrenbetäubenden Noise Gewittern. Wären da nicht die festen Plätze – ein großes Pogo-Gemetzel wäre sicher.

Weiter zur St. Pauli Kirche, C’Est Karma. Gleiches Prozedere, hier bestuhlt in Zweier-Grüppchen. Nerdige Retro-Brille trifft auf anspruchsvoll modernen und experimentellen Pop. Die Stimme füllt die ganze Kirche, Gestik steht dem nichts nach. Wäre da nicht die Singer/Songwriter-Einlage in der Mitte gewesen.

Zum Ende Umme Block auf der Spielbude XL. Die Mathematik stimmt – mit entsprechenden Wartezeiten sind genau zwei bis drei Konzerte pro Tag machbar. Das erste „Stehkonzert“ der beiden jungen Damen aus München. Die Nervosität vom Blitz-Soundcheck mit dem Beginn weggeblasen. Technoider Pop mit Gitarre. Komplett handgemacht ohne Retorte. Beeindruckende Vorstellung zweier jungen Künstlerinnen, die wissen was sie tun und ehrlich dafür brennen.

Gut gelaunt und durchaus zufrieden mit der „Ausbeute“ geht der erste Tag zu Ende.

Donnerstag, früher Nachmittag. Die Schlange vor dem Grünspan formt sich bereits gut zwei Stunden vor Beginn. Der soziale Wert vom Schlangestehen sehr hoch. Mit so vielen Menschen kommt man normal nicht ins Gespräch. Nur die Themen sind anders. Kaum jemand redet über die Musik. Es geht nur um Schlangen, Glück und Unglück beim Einlass und die Kapazitäten:

Molotow Club 55, Molotow Backyard 100, Grünspan 200, Thomas Read 48, Nochtspeicher 60, headCRASH 36. Alle werfen sich Zahlen entgegen und Neuankömmlinge zählen erstmal die Schlange durch, ob sich Anstellen noch lohnt. Wenige Minuten vor Einlass formt sich eine Delegates-Schlange. Die ersten in der normalen Schlange landen schon nicht mehr ganz vorne.

Working Men’s Club. Cabaret Voltaire vom Band als Intro. Ihnen widmet Sidney das Konzert. Elektronisch wummert es los, geht sofort in die Beine. Sound aus der 80er Synthie-Vergangenheit. Adidas-Streifen von heute. Zukunft simuliert Nostalgie. Und dann schnappen sich alle Gitarren. Die elektronisch eingängige Schonfrist ist vorbei. Zerren, Schnarren und Feedbacks über dem strukturierten Sound treiben zur akustischen Ekstase. Sehr positive Überraschung. Leider war das Briefing für die Security wohl nix. Korrekter Drill ist so wichtig.

Veps im Molotow überzeugen nicht genauso. Nett gemacht und rockig, aber wenig Neues. Dann lieber etwas früher auf in die nächste Schlange.

Die ist für den Keller vom Thomas Read. Die Stimmung schon schwieriger, Enttäuschung über verpassten Einlass nach langem Warten wird ein wichtigeres Thema. Shishi, drei Mädels aus Litauen, eine Explosion von Glitter. ABBA wäre neidisch auf ihre Hosen. Flowerpower auf Stereoids. Die Blumen gehen schnell verloren, übrig bleibt die Power. Und irgendwie kommt alles mal vorbei. 70er, Roadmovie, Surf, Punk, Country. Die drei Künstlerinnen aus dem Nordosten kennen keine Schubladen und machen alles, was ihnen Spaß macht. Cooler Live Sound, explosives Attitüde und echte Freude an der Musik.

Danach ins Molotow Backyard, die erste 2G Party. Wunderschön neues altes Erlebnis. Nach gründlicher Kontrolle keine Regeln, keine Masken. Tanzen ohne Reue.

Freitag beginnt in der Elbphilharmonie. ÄTNA, Gewinner vom letztjährigen Anchor Award, tun sich mit der NDR Bigband zusammen. Das wird nichts. Gar nicht. So der erste Eindruck als die 18-köpfige Bigband mit gutem klassischen Jazz beginnt. Wie soll das auch nur annähernd mit Ätna zusammen gehen? Weit gefehlt. Sofort, nachdem das Duo dazu kommt, ist alles eine Einheit. Als hätten sie nie anders geklungen. Saxophon-, Posaunen- und Trompeten-Soli fügen sich nahtlos in den elektronischen Sound ein. Dazu hüpft Demian wie ein Derwisch vor der Band herum und Inéz kämpft mit ihrem drei Meter langen Pferdeschwanz. Ihre Stimme füllt die eine Hälfte des Saales, die Band mit viel Volumen den Rest. Eine unglaubliche und unerwartete Kombination.

In der nächsten Schlange ist die Stimmung jetzt komplett gekippt. „32 Delegierte kamen in letzter Minute und dann durften nur 18 wartende Gäste rein.“ „Die Security hat extra abgezählt und ich war auf alle Fälle dabei, also habe ich gewartet. Und dann kamen noch Last Minute Delegates und ich durfte nicht mehr rein“. Diese Geschichten beherrschen jetzt das Thema. Der Feind ist ausgemacht. Zahlen variieren, der Tenor tönt überall gleich. Kudos an die Security vom headCRASH – 15 Minuten vor Einlass kleine Nummern an die 36 Glücklichen, die reinpassen verteilt. Und das durchgehalten.

Die junge Schauspielerin Nina Chuba strahlt auf der Bühne heller als ihre vielen Neonröhren. Dunkler drückender Pop wird zu poppigen Hip-Hop. Englische Texte zu deutschen. Alles mit sehr hohem Sympathie-Faktor. Wenn das die Zukunft des jungen Pop ist, dann können wir Hoffnung haben.

Änderung der 2G Regeln in Hamburg. Ab Samstag keine Beschränkungen mehr für 2G Partys. Das Molotow macht alle vier Floors ab Mitternacht auf. Die Schlange davor ist unglaublich und wird über zwei Stunden eine eigene Party. Leider ist die Einlass-Logistik so zäh, dass wir – wie viele andere – um 1:30 Uhr früh nach Hause gehen, ohne in der Nähe der Türe gewesen zu sein.

Samstag beginnt mit der wichtigsten Meldung des Tages – die Delegate Lanes werden abgeschafft. Die Erzählungen klingen nach einer kleinen Revolution. Die Zeit in den Schlangen wird nicht kürzer, aber die Stimmung besser.

Ein zweischneidiges Schwert. Die Branche und nicht zuletzt die Bands brauchen Fachpublikum in den Konzerten. Kaum eine Band, die auf dem Reeperbahn Festival kein Booking, Label, Management oder Ähnliches sucht. Und in der Presse wollen sie auch gefeatured werden. Schlussendlich ist das Festival für viele Leute kein Privatvergnügen, sondern Lebensunterhalt. Dafür braucht es nächstes Jahr bessere Ansätze und ein besseres Gleichgewicht aus verkauften Tickets und Kapazitäten. Und hoffentlich keine Pandemie mehr.

Vormittags Radio Sessions zusammen mit TIDE.fm. Atzur, Alternatives Pop-Duo aus Österreich. Gefälliger Druck mit einer Portion Dramatik und intensiver Stimme von Patricia. Siamese Elephants, ebenfalls aus Österreich. Die vier Jungs liefern klassischen, doch frischen, Gitarrenrock mit einer Spur Garage und einem Ausflug in die sphärische Synthie-Welt.

Dann zu Boundaries im Molotow Backyard. Immer noch die angenehmste Location für die Pandemie. Der Gesang von Mads düster fatalistisch. Sein Stimmvolumen so beeindruckend wie die Bühnenpräsenz. Gitarren zerren, was die Saiten hergeben. Die Bass Drum übernimmt Besitz aller Bäuche. Die SMS von der Straße „das klingt aber ganz schön laut hier draußen“ spricht Bände. Ab und zu simulieren sie eine Melodie, nur um sofort jede Harmonie zu zerstören und wahre Gewitterstürme aus den Gitarren zu holen. Jetzt sind alle wach, egal wie lange sie am Abend davor vor dem Molotow standen.

Grünspan. Das mit der Security wird nicht besser. Wir lernen, dass es die Security aller anderen Clubs falsch macht. Mia Morgan, ein interessantes Phänomen und sehr zielgerichteter Auftritt. Wohl keine andere Band diese Woche hat ihr Publikum so auf den Punkt abgeholt. Alle zappeln mit, so gut das geht.

Zum Abschluss King Hannah im Nochtspeicher. Ab dem ersten Akkord fesselt das Duo, das drei Musiker mitgebracht hat. Leicht psychedelisch anmutende Gitarren und Synths vor superknackiger Snare. Hannahs tiefe Stimme stellt jeden Sinn des Lebens in Frage. Den Spannungsbogen reizen sie am Ende der Stücke komplett aus. Verhalten und gebremst verstecken sie viel dunkle Energie in der Tiefe. Absolutes Highlight, die neue Single „A Well-Made Woman“. Dunkel rauchiger Gesang über minimaler Gitarre und Drumpad. Der ganze Raum hält fünf Minute die Luft an. Und am Ende muss sie sogar ein einziges Mal grinsen.

Das erste Mal, dass ein Reeperbahn Festival mit dem absoluten Höhepunkt zu Ende geht.

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