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Wir leben in einem Horrorfilm – Archive im Interview

Seit 1993 macht das Trip-Hop-Kollektiv Archive schon gemeinsam Musik, das elfte Studioalbum “Call To Arms & Angels” ist jedoch nicht einfach ein Spätwerk, sondern ein echtes Mammutprojekt. Als Doppelalbum nimmt sich die Platte den finsteren Umständen der Gegenwart an und spart dabei selbst die düstersten Gedanken nicht aus. Mit Gründungsmitglied und Keyboarder Darius Keeler führten wir ein Gespräch über Reflexionen, Perspektiven und den Horrorfilm der Weltgeschichte.

MusikBlog: Hallo Darius! Wie fühlst du dich so kurz vor dem Release des neuen Albums?

Darius Keeler: Ich bin total aufgeregt nach dem ganzen Marathon, der hinter diesem Album steckt. Wir sind jetzt auch mitten in der Promo-Phase und haben kürzlich in Paris bereits ein paar Songs vorgestellt. Da aber nur in unserer Dreierbesetzung aus E-Gitarren und Klavier. Dann spielen wir noch in Deutschland im TV und danach in Polen, das Album wird also langsam lebendig. Das fühlt sich in der aktuellen Weltlage wirklich merkwürdig an, aber gerade jetzt muss man jeden einzelnen Moment genießen.

MusikBlog: Würdest du denn sagen, dass die ganzen Dinge, die in der Welt geschehen sind, seit ihr euer letztes Album veröffentlicht habt, auch einen Einfluss auf euren Sound und eure Themen hatten?

Darius Keeler: Auf jeden Fall. Künstlerisch gesehen, war es dieses Mal schon ganz anders als sonst, wo wir immer alle gemeinsam im Studio waren. Jetzt konnten wir uns nur per Zoom sehen, aber das hat uns auf der anderen Seite auch inspiriert. Auch wenn es eine Art düstere Inspiration war, war es eben doch Inspiration. Ich bin sehr froh, dass wir diese Platte gemacht haben, da sie die letzten Jahre reflektiert. Ich wüsste nicht, wie wir unsere Gefühle sonst zum Ausdruck hätten bringen können. Aber müsste ich mich jetzt entscheiden, hätten wir lieber kein Album und die Welt wäre dafür anders, als sie gerade ist.

MusikBlog: Waren diese düsteren Ereignisse denn auch Dinge, die du unbedingt in Musik verpacken wolltest?

Darius Keeler: Als wir unsere Tour im Dezember 2019 beendet hatten, steckten wir gerade etwas in einer kreativen Krise. Wir hatten eine Session im Januar 2020, aber dabei kam nichts Gutes heraus. Und dann kamen eben diese ganzen Situationen im Lockdown, die sehr inspirierend waren. Wenn man ein Album machen will, gibt es dafür zwei Möglichkeiten: 1. Du hast bereits eine ganze Menge Inspiration oder 2. Du denkst “Jetzt machen wir ein Album”. In genau diesem Moment stecke ich gerade wieder, da ich schon die Songs für die nächste Platte schreibe. In den letzten Monaten fiel mir das wieder sehr schwer. Manchmal braucht es nur ein paar Momente und schon kann es losgehen.

MusikBlog: Insbesondere interessant, da die Platte mit den Worten “There’s A War” beginnt. Das ist ja angesichts der aktuellen Weltlage besonders bedrückend.

Darius Keeler: Das ist so verrückt, oder? Zu dem Zeitpunkt hatten wir noch über die Pandemie gesungen und die ganze Spaltung der Gesellschaft. Aber dass nun diese Situation mit der Ukraine entsteht, hatten wir natürlich nicht kommen gesehen. Auf der Platte gibt es so viele Lyrics, die zur jetzigen Kriegslage noch besser passen als zur Pandemie. Leider. Wir leben einfach in einem Horrorfilm. Es ist erschreckend, in einer freien Welt zu leben, wo man weiß, welche schrecklichen Dinge woanders passieren. Es ist wirklich hart.

MusikBlog: Durch solche Situationen neigt man ja auch dazu, sich selbst mehr zu hinterfragen. Und als Musiker*in beginnt man dann wahrscheinlich, auch anders Musik zu schreiben. War es denn schwierig, die passende Musik zu diesen düsteren Szenen zu finden?

Darius Keeler: Archive thematisieren ja generell vor allem dunkle Momente. Man kann nicht wirklich planen, wie etwas klingen wird. Als Musiker*in kann man nur versuchen, so ehrlich zu sein, wie es eben geht. Wenn man das zu gezielt angeht, schießt man voll am Ziel vorbei. Aber klar, es ist total schwierig gewesen. Doch egal, wie privilegiert man gerade ist, ist es super wichtig, die eigene Meinung kundzutun.

MusikBlog: Würdest du denn sagen, dass diese ganzen Meinungen und auch Gefühle, wie beispielsweise in “All That I Have”, wo ganz deutlich über Tod und Verlust gesprochen wird, etwas ist, das du gerne mit deinen Bandmitgliedern besprichst und teilst?

Darius Keeler: Wir sprechen immer sehr viel über alles, was uns bewegt. Zu diesem Verlust-Thema hatte ich einen Artikel über eine berühmte Person gelesen, die jemanden verloren hat. Und die Art, wie diese Person darüber geschrieben hat, hat mich einfach inspiriert. Gerade in Zusammenhang damit, dass wir alle in der Pandemie jemanden kennen, den wir verloren haben oder der jemanden verloren hat. Das war eine Reise, die wir gemeinsam angetreten sind.

MusikBlog: Das klingt auf jeden Fall so, als hätte die Band insgesamt eine sehr wichtige Rolle dabei gespielt, mit der Situation klarzukommen. Hattet ihr denn da auch von Anfang mit gerechnet, dass die neue Platte ein Doppelalbum mit so vielen Sounds und Themen werden würde?

Darius Keeler: Ja, wir wollten schon immer ein Doppelalbum machen. Aber in der Vergangenheit hatten wir dafür nie das Material oder Konzept, das diesen Schritt gerechtfertigt hätte. Das Problem mit diesem Album ist, dass wir in nur einem Jahr ungefähr 30 oder 35 Songs gesammelt hatten. Da war das Doppelalbum schon fast eine Notwendigkeit. Ich höre es auch sehr gerne, gerade wenn du die Vinyl wenden musst und die beiden Geschichten ineinander übergehen.

MusikBlog: Könntest du denn vielleicht mal erzählen, wie die beiden Seiten sich unterscheiden, aber auch wie sie zusammengehören?

Darius Keeler: Ich würde gar nicht unbedingt sagen, dass sie sich unterscheiden. Ich habe mit einem Journalisten gesprochen, der meinte, dass der “Call To Arms” der erste Teil des Albums ist – und der “Angels”-Teil der zweite. Das war eine sehr interessante Idee, das so zu deuten. Alle Songs haben so eine direkte Message – wir wollen ja auch gar nicht kryptisch sein. Dadurch, dass wir mit Archive so viel mit Farben, Sounds und Instrumenten spielen, ergibt sich direkt ein sehr diverser Sound. Dadurch entstand schnell eine Album-Hälfte, die etwas drängender ist, und die andere Seite steht dem gegenüber. Aber hauptsächlich wurde die Platte ein Doppel-Album, weil wir so viel Material zusammenbekommen haben.

MusikBlog: Ich hatte beim Hören den Eindruck, dass zumindest inhaltlich die erste Seite mehr um die Bedrohungen von außen kreist, während die zweite sich mehr mit dem eigenen Innenleben auseinandersetzt.

Darius Keeler: Darüber habe ich tatsächlich auch schon nachgedacht! Deswegen finde ich es auch so interessant, mit Journalist*innen darüber zu reden. Für uns ist es schwieriger, weil wir damit ja eine bestimmte Geschichte erzählen wollen. Und es ist natürlich schwierig, diese Geschichte so zu erzählen, wie die Hörer*innen sie am Ende hören. Das passiert ja alles im Kopf. Das ist genau das Schöne an Musik.

MusikBlog: Ein wenig Kreativarbeit von beiden Seiten.

Darius Keeler: Ja, das ist genau, was Musik und Kunst so interessant macht. Dabei entstehen so unterschiedliche Wahrnehmungen. Sogar innerhalb unserer Band! Wir schreiben einen Song zusammen, beispielsweise “Freedom” und für mich bedeutet er etwas ganz anderes als für Dan oder Dave! Das liebe ich einfach.

MusikBlog: Auf diesem Song gibt es ja die Lyrics “Freedom tastes like dirt”, die mir direkt aufgefallen sind. Du hattest ja vorhin darüber gesprochen, wie es ist, in einer freien Welt zu leben. Würdest du dem Song eine besondere Bedeutung für das ganze Album beimessen?

Darius Keeler: Ich finde, dass die Pandemie alle großen Weltkrisen vergrößert hat. Das Leben aller Menschen wurde plötzlich angehalten. Alle haben sich plötzlich mit ihrem eigenen Zorn konfrontiert, alles wurde auf Social Media ausgetragen. In den USA gab es dabei noch die Trump-Regierung, die ähnlich beängstigend ist wie die Ukraine-Situation, wenn auch auf einer ganz anderen Art und Weise. Aber es ist doch einfach irrsinnig. Als sie in das Weiße Haus gestürmt sind, hat man sich auch nur noch gefragt “Was kommt denn als Nächstes bei so einem Klima?” Da denkt man plötzlich wieder an die 1930er Jahre. Und das wird auch nicht weggehen, egal, wie viel wir uns ablenken.

Der rechte Flügel ist wirklich ein Problem. All das, was wir selbst mitbekommen haben, war wirklich ein Schock. Auch beim Tod von George Floyd bekommen die Worte “Freedom tastes like dirt” eine tiefere Bedeutung. Es war seine Freiheit. Aber nicht nur in den USA gibt es solche Situationen, auch in Europa gibt es so viel Armut. Und darum geht es auch im Song. Freiheit wird als etwas Glänzendes, Funkelndes dargestellt, dabei hat dieses Wort so viele Ebenen. Darin steckt auch so viel Düsternis. In der Art, wie wir überhaupt frei geworden sind, steckt so viel Schmerz, so viele Leute mussten in der Sklaverei leiden. Ich möchte dich auch nicht zu sehr deprimieren.

MusikBlog: Über all diese Umstände dreht sich die Platte ja auch, reflektiert also die Außenwelt. Mit der zugehörigen Dokumentation reflektiert ihr aber wiederum den Prozess hinter dem Album. Hat denn die Dokumentation auch verändert, wie ihr selbst die Platte wahrnehmt?

Darius Keeler: Ja, das war wirklich eine magische Erfahrung. Ein paar Freunde von uns haben das gemacht, die schon viel Erfahrung im Filmemachen gesammelt haben. Und die hatten diese tolle Idee zur Dokumentation. Sie haben echt mit uns zusammengelebt und dokumentiert, wie wir zusammenarbeiten, wenn wir uns nicht sehen können. Dann ist es plötzlich zu dieser künstlerischen Größe angeschwollen, die sich die beiden vorgestellt haben. Es fängt diesen Moment in der Zeitgeschichte ein und nicht nur unser Album. Es ist irgendwie auch ein historisches Dokument darüber, wie eine Band in dieser aktuellen Zeit ein Album aufnehmen konnte. Ich bin wirklich sehr stolz auf diese Dokumentation. Definitiv ein Highlight unserer Karriere.

MusikBlog: Wie können wir uns das denn vorstellen, dass ihr als so große Band überhaupt zusammenarbeiten konntet?

Darius Keeler: Es war echt schwer. Vor allem der letzte Abschnitt im letzten Sommer. Das Schreiben war schon schwierig, aber da ging es noch nicht um Geld. Doch beim Aufnehmen mussten wir schon sehr darauf achten, vor allem, weil wir ja die letzten Jahre keine Einnahmen hatten. Es war, was das angeht, also sehr stressig. Aber wir haben es ja geschafft und darüber bin ich sehr glücklich. Ich bin einfach sehr dankbar für diese tolle Band voller wichtiger Freund*innen und großartiger Musiker*innen. Ich freue mich so darauf, wieder mit ihnen auf Tour zu gehen.

MusikBlog: Wollt ihr denn nach all den Jahren die Tour etwas anders angehen als sonst?

Darius Keeler: Bei den meisten Konzerten werden alle Sänger*innen dabei sein – und die Energie wird einfach magisch werden. Und wir versuchen, einen Kontrast zwischen verschiedenen Emotionen herzustellen, um eine gewisse Dynamik zu erreichen. Das ist uns sehr wichtig.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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