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Radiohead – A Moon Shaped Pool

Viele der schreibenden Zunft müssen seit Sonntagabend ein gewisses Album einer gewissen Band so oft wie möglich rauf und runter hören und es so schnell wie möglich besprochen haben.

Am Morgen, mit dem Rad auf dem Weg zur Arbeit, versuche ich zu einer gefestigten Meinung zu kommen, während Radioheads neuntes Album „A Moon Shaped Pool“ durch die Kopfhörer saust.

Das Blaulicht kündigte es an, an einer großen Berliner Kreuzung ist es mal wieder passiert: Ein großer, schicker Reisebus mit VIP-Schriftzügen steht nach dem Abbiegen quer, Streifenwagen sperren die Kreuzung, ein Krankenwagen ist nicht mehr zu sehen, aber das weiße Zeug, was man streut, um Blut von Fahrbahnen zu bekommen, liegt üppig verteilt. Ein komplett demoliertes Fahrrad wurde an das nächstbeste Straßenschild gelehnt. Man hat sich an diese Unfälle gewöhnt, einfach, weil es hier so regelmäßig geschieht.

Plötzlich ist sie da, während ich an der Schreckensszene vorbeifahre mit Radiohead im Ohr, die notwendige Quintessenz zum Artikel des neuen Radiohead-Albums: Kaum eine Band kann so sensibilisieren wie diese. Ganz besonders auf diesem, vielleicht ihrem melancholischsten Werk. „A Moon Shaped Pool“ feiert die Fragilität, zelebriert die sensible Kunst, sich der Schönheit, aber eben auch der Begrenztheit des Lebens bewusst zu sein.

Den Erwartungen an eine Band, die Popgeschichte nicht mit Verkaufszahlen, sondern mit Inhalt geschrieben hat, kann wahrscheinlich niemand gerecht werden. Konstatiert werden muss, dass Radiohead dann doch konstanter geworden sind in ihrem Sound. Seit „In Rainbows“ von 2007 gab es keine große Revolution mehr. Vom Indie-Rock-Manifest „OK Computer“ zu den schockierenden Neuerfindungen „Amnesiac“ und „Kid A“, zu der wieder sehr rockenden Überraschung „Hail To The Thief“: Radiohead, das war in erster Linie die Definition von Unberechenbarkeit.

„In Rainbows“, „The King Of Limbs“ und jetzt „A Moon Shaped Pool“ bilden da vergleichsweise eher eine Einheit, eine Kontinuität. Es scheint, als haben Thom Yorke, Johnny und Colin Greenwood, Ed O’Brian und Philip Selway so etwas wie ihren Sound gefunden. „Present Tense“ beispielsweise könnte nahtlos in „The King Of Limbs“ passen.

Wer also mal wieder von Radiohead vollkommen vor den Kopf gestoßen werden wollte, könnte enttäuscht sein, wer die Bandära der letzten Dekade lieb gewonnen oder nur diese so richtig kennt, dem wird das Herz schmelzen.

„A Moon Shaped Pool“ sensibilisiert für das Kleine, für das Unsagbare, für das Magische. Ihr neuntes Album spuckt keine großen Töne. Es inszeniert feierlich und würdevoll die Feingeistigkeit, eben die Sensibilität.

Piano-Melodien tauchen aus ihrem eigenen Moll-Meer empor und flattern über die Oberfläche wie fliegende Fische in „The Numbers“, verzweifelt reißt sich eine im Zaum gehaltene E-Gitarre erst am Ende los und ergießt ihren Tonbrei in den letzten Sekunden von „Identikit“. Und die seltsamen Geräusche aus einer fernen Phantasiewelt, die „Ful Stop“ ausklingen lassen, erinnern fast ein wenig an irgendein Tier, aus irgendeinem dieser Star Wars-Filme.

Radioheads neuntes Album hat all die außergewöhnlichen Sounds, die wir bei dieser Band erwarten, es ist eine Muskelschau all dessen, was Thom Yorke und Co. so einmalig macht. Es mag sehr melancholisch sein und damit eher Nachtmusik, es mag die stärksten Momente auf der zweiten Hälfte versammeln und damit Geduld einfordern. Aber es ist auch schlicht und einfach ein wahnsinnig gutes Album.

Auf dem Rückweg ist die Kreuzung längst wieder freigegeben, das Leben geht weiter für die, die leben; oder wie Karl Ove Knausgård schreibt: „Für das Herz ist das Leben einfach. Es schlägt so lange es kann.“ Nur noch Tatortmarkierungen bezeugen vergangenen Schrecken. Und am Bordstein wurde eine blutüberströmte, mittlerweile verkrustete Sandale vergessen. Irgendwann wird sie sich einer annehmen, in der Großstadt der Jäger und Sammler.

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