Die grauen Greise unserer Zeit streiten sich, wie man der verdorbenen Jugend mit Abgrundpop im Ohr noch weiterhin die Klassik schmackhaft machen könne. Ólafur Arnalds tritt den Versuch an, unter anderem auch dieses Ziel in die Tat umzusetzen – dem eingestaubten Musikgenre einen andersartigen Anstrich zu geben. Dafür nimmt er sich Omas guten alten Musikgeschmacks an und wandelt diesen ganz einfach in Aufnahme- und Weiterverarbeitungstechniken: Von einer „radikalen neuen Annäherung“ an die Werke Chopins ist hier die Rede. Tatsächlich erscheint es, als wolle der junge Isländer mit einem formschönen Konzept im Komponistenhinterkopf etwas Neues erschaffen.
Arnalds mäkelt nicht etwa an der bisherigen Umsetzung des Chopin’schen Spiels – sondern fletscht die Zähne zu den Klassikaufnahmen im Allgemeinen. Diese hätten eine Art Problem, welches sich aus den eingebürgerten Hygienevorschriften an ihr ableiten lässt: Klassik ist elegant. Unantastbar. Gehoben. Der Komponist möchte von der Klassik jedoch ein anderes Bild malen: ein Bild von Nahbarkeit, von Tastbarkeit.
Zusammen mit der begeisterungsfähigen Pianistin Alice Sara Ott ist ein Gedanke ausgetüftelt worden, wie man den gewissen Charme in eine Aufnahme bringt, welche es schon in hundertfachen Ausführungen gibt. Die Antwort: mit mehreren Ebenen. Der schwere Konventionsschleier wird hochgehoben und der Aufnahmeprozess kurzerhand sichtbar gemacht.
Und zu sehen gibt es vor allem bei geschlossenen Augen so einiges: Den kleinen Raum, in welchem das muchtige bespielte Klavier steht. Das Arbeiten und Atmen mehrerer Korpusse, sowohl der Pianistin und Violinistin, als auch des jeweiligen Instrumentes zugleich. Selbst die altertümlichen Aufnahmegeräte lassen zwischen lieblichen Tönen ein stetes Zirpen verlauten. Jegliche physische Perfektionslogik, etwa von individuellen Abstrahlcharakteristika der Instrumente, wird einfach überrollt. So kann es schnell zum Eindruck eines Dauerflageoletts der Geige mit ordentlichem Druck, oder einer scheinbaren Klangähnlichkeit mit einer Panflöte kommen. Würde eine solche Spur in einem konventionellen Tonstudio landen, hätte diese keine Verarbeitungschance und den Zwang, jegliche Unebenheiten zu vertuschen.
Das scheinbar Ungewohnte an diesen Prozessen legt schamlos offen, wie sehr unsere Ohren an Perfektion gewöhnt sind. Jegliche Nebengeräusche lassen sich als eine Vielzahl Mitprotagonisten einbilden: Ist das stete Rauschen der zart pochende Regen am farblosen Fenster der Pianistin? Oder sind die Aufnahmen am Rande einer mit Holzkarren befahrenen Straße entstanden? Deuten Stimmen im Hintergrund auf alte, romantische Tonbandaufnahmen oder anwesende schnatternde Kulturbanausen hin?
Bei all diesen zu Absicht aufgeworfenen Fragen schält sich dennoch eine Erkenntnis heraus: Beim Annehmen der großen Themen des wunderbaren Chopin, sollte man sich nicht selbst in einen direkten Vergleich neben diesen stellen – ein solcher Größenvergleich kann nur schiefgehen. So stechen vor allem Arnalds Eigenkompositionen, welche Einleitungs-, Überleitungs- und Folgetracks darstellen, heraus. Scheinbar unbeholfen, aber irgendwie experimentell webt der Isländer an den Themen weiter, baut dabei auf artige Tonleiterfolgen, einfache getragene Legatobögen und gleichbleibend rhythmische Akzente. Mit Schichten wird kurzerhand eine Dramatik zu schaffen versucht, welche sich in den Werken Chopins vor allem in einer minimalen Bewegung langer Verarbeitungen versteckt.
Dennoch: Ólafur Arnalds zieht den Stecker aus konventionellen Mischpulten und Stock aus dem alteingesessenen Hintern der Klassikaufnahmen. Das Ganze ist daraufhin der Kategorie des “Kann man machen, muss man aber eben nicht” zuzuordnen. Die Diskussion der grauen Greise wird sich so jedenfalls nicht legen.