Das Londoner Quartett Skunk Anansie spielt noch immer in derselben Besetzung wie seit seinem zweiten Album „Stoosh“, das 1996 erschien. Mark trommelt, Ace zupft die Gitarren, Frontfrau Skin singt. Mit Skin und Bassist Cass, der kurzfristig für Gitarrist Ace einsprang, trafen wir uns in Köln während der Vorab-Tour zu ihrem neuen Album „The Painful Truth“ und sprachen darüber, warum sie Rock-Gitarren für antiquiert halten, wieso die 1990er für sie aus und vorbei sind sowie über neue Rollenverteilungen.
MusikBlog: Skin und Cass, das neue Album soll ein neues Kapitel eröffnen. Der Produkttext zu eurem neuen Longplayer besagt, euch sei klar geworden, dass eure letzten drei Alben keine großen Würfe waren.
Skin: Unser letztes Album ist neun Jahre her. Das ist eine sehr lange Zeitspanne, um es mit irgend etwas zu vergleichen, was wir jetzt tun. Seit „Anarchytecture“ ist jede Menge passiert, nehmen wir den Brexit, nehmen wir Covid. Im Abstand zur damaligen Phase herrscht solch eine große Kluft, dass es nicht ratsam ist, die Musik von früher mit unserer neuen zu vergleichen. „The Painful Truth“ handelt vom Jetzt und von dem, was in unseren Freundeskreisen und Familien, unserem näheren Umfeld und auch weltweit gerade geschieht. Das ist relevant. Auf „Anarchytecture“ waren wir gänzlich andere Skunk Anansie. (lacht)
MusikBlog: Anderes Label, anderer Produzent…
Skin: Anderer Manager! Alles hat sich geändert.
Cass: Eine andere Energie!
Skin: Genau, ein anderer Vibe!
MusikBlog: Könnt ihr Energie und Vibes beschreiben?
Cass: Wir schätzen, was wir aneinander haben, als Individuen innerhalb der Gruppe. Wir haben klar vor Augen, was für einen Schatz wir mit uns tragen. Unseren Vibe in der Band würde ich bildlich beschreiben: Es ist wie ein „Flow“, eine Welle, die wir auf der Bühne beginnen und von einem zum anderen spülen und dann von oben auf das Publikum übertragen und womit wir die Leute überspülen, als ob wir sie waschen.
Skin: Unsere größte Veränderung ist, dass wir uns während Corona von unserer langjährigen Managerin getrennt haben, nach ungefähr 30 Jahren, seit wir angefangen hatten, und nun keine neue einarbeiten wollten. Somit handhaben wir jetzt alle Fragen selbst. Wir verwalten unsere Tour selbst, was uns auch Zeit für Organisatorisches kostet. Mit dieser Übernahme von Verantwortung haben wir auch schmerzliche Wahrheiten über uns selbst erkannt, „The Painful Truth“, die uns sonst wohl nie so aufgefallen wäre.
MusikBlog: Zum Beispiel?
Cass: Wir mussten Listen schreiben, um uns unsere Prioritäten klar zu machen. Dass Covid und Brexit sich gleichzeitig ereigneten, entsprach einer Feuertaufe. Dass wir gleichzeitig anfingen, uns um alles selbst zu kümmern, rief die Listenmacher unter uns auf den Plan.
Skin: Wir haben jetzt eine andere Struktur: Wir vier sind die Struktur. Das heißt, wenn ich jetzt irgend etwas in der Band tun will, gehe ich zu Ace, gehe ich zu Cass und frage sie direkt. Ace ist derjenige bei Skunk Anansie, der die geschäftliche Seite regelt.
MusikBlog: Aber ihr habt ja inzwischen Leute wie Jeremy Lascelles von Blue Raincoat Artists und Kat Kennedy von Big Life Management an eurer Seite?
Skin: Ganz am Anfang von Skunk Anansie hatten wir lange nach einer Managerin gesucht und waren schließlich fündig geworden. Leigh wusste, wie wir arbeiten, wir wussten, wie sie arbeitet. Wenn du dich daran 30 Jahre lang gewöhnt hast und das Verhältnis eng war und die Abläufe eingespielt waren, ist es schwierig, das Management zu wechseln und einzuschätzen, wie eine andere den Job ausüben würde. Jeremy kannten wir von Anfang an durch unseren Vertrag mit einem Verlag für die Liedtexte. Aber eine Zeitlang sind wir auch alleine zurecht gekommen, und ich habe mir mehr Aufgaben selbst zugetraut, die mich schon lange gereizt haben.
MusikBlog: Welche zum Beispiel?
Skin: Oh, ich verkörpere die verrückte Seite. Ich stehe für das, was crazy ist an Skunk Anansie. Ich bin die große Denkerin in der Band. Das heißt, ich denke immer schon ans nächste Album. Und ich überlege mir, wie wir klingen, und was in der Bühnen-Show funktioniert, was nicht, wie wir aussehen, welchen visuellen Eindruck wir in Videos vermitteln, wie wir uns anziehen, welche Aussage unsere Songs machen, also die ganze „Ideologie“, die gesamte kreative Seite. Das alles fasziniert mich, ich liebe das. Und es ist so viel einfacher, Ideen nur innerhalb der Band zu diskutieren.
Cass: Wir müssen uns nicht anpassen. Niemand filtert unsere Ideen.
MusikBlog: Skin, du bist eine Akademikerin in der Musikindustrie und hast Innenarchitektur studiert. Somit hast du dich schon lange vor Social Media mit der visuellen Gestaltung befasst.
Skin: Ja, ich bin eine sehr kreative, aufs Visuelle ausgerichtete Person. Was ich sehe oder höre, spielt sich zuerst in meinem Kopf ab, und dann geht es darum, das möglichst getreu dieser Vorstellung nachzubilden. Der Vorgang, etwas im Kopf vor sich zu haben und es dann von dort nach außen zu bringen, ist die künstlerische Seite des Ganzen. Also zum Beispiel, wenn Cass sich eine Basslinie vorstellt und danach sein Instrument vor sich hat, dann ist die Übersetzung der Idee an dem Bass in seiner Hand der schöpferische Vorgang – also wie diese Idee von hier nach dort geht. Kunst besteht darin, das Virtuelle zu übersetzen.
MusikBlog: Hast du das im Studium trainiert?
Skin: Als ich Innenarchitektin war, bestand mein Talent wirklich darin, in meinem Kopf etwas zu sehen und das zu genießen. Das war das beste daran.
Cass: Das zeichnet den Künstler aus: Eine Vorstellung haben und dann die Mittel finden, um sie in der Wirklichkeit zu manifestieren.
MusikBlog: Lasst uns übers Album sprechen.
Skin: Okay. Ja, es ist ein andersartiges Album. Denn, wenn du über die 90er nachdenkst, liegen sie 30 Jahre zurück. Das heißt, wenn wir immer noch solche Musik spielen würden, wie wir es in den 90ern getan haben, würde das eine ausgeprägte Faulheit und einen echten Mangel an Kreativität zeigen.
MusikBlog: Aber haben die eigenen Wurzeln und Erfolge nicht auch ihre Berechtigung?
Skin: Nun, ich finde, wenn du dich in 30 Jahren nicht entwickelt hast, was hast du dann überhaupt getrieben? Cass‘ Art zu spielen ist anders als damals, meine Stimme hat sich entwickelt. Ich habe eine ganze Oktave hinzugewonnen. Für uns lautet das Ziel, Musik zu machen, die in unseren Ohren frisch klingt. Wenn man von uns möchte, etwas aus den 90er Jahren zu machen, sollte man sich einen Tonträger von damals auflegen.
Cass: Ja, absolut.
Skin: Ich denke, die Leute haben diese Alben von damals und können sie vor- und rückwärts spielen. Für uns als Künstler hingegen besteht das Vitale darin, frische Musik anhand frischer Klangfarben zu machen. Alles, was man an einer Gitarre tun und erfinden kann, wirkt doch schon abgehakt, oder? Für das Feld von Rock und harter Musik ist die Gitarre mit Sicherheit ein inspirierendes Instrument. Doch mit Elektronik-Zeug lässt sich so viel mehr entwickeln.
MusikBlog: Inwiefern?
Skin: Meiner Ansicht nach hat es seinen Grund, dass die frischesten Dinge, die in der Musik erscheinen, aus den Elektronik-Spielarten kommen. Denn mit elektronischer Musik kannst du großartige, wunderbare Sachen machen. Mit Gitarren hingegen ist alles schon einmal da gewesen. Alles. Da bleibt nichts mehr übrig, was sich frisch anhören würde. Was frisch ist, sind die Songs und die Kombination von Elektro mit den Songs. Und was frisch ist, ist die Botschaft. Aber Gitarre, Bass oder Schlagzeug als Instrumente sind ausgereizt.
MusikBlog: Das heißt, alles wiederholt sich nur noch?
Skin: Nein. Sondern, was passiert, wenn Leute versuchen, solche Grenzen zu verschieben, ist, dass der Klang immer komplizierter wird. Freilich, ich mag Jazz und all das verrückte Zeug, was man machen kann. Aber mit dem Trend zum immer Komplizierteren geht mehr und mehr die Botschaft verloren.
Cass: Es geht dann weniger um den Song.
Skin: Genau. Aus diesem Grund halte ich es für interessanter, an diesen Instrumenten zwar herum zu spielen, sie dann aber mit Elektro-Sounds zusammen zu fügen. Das hat mehr Aroma, mehr Frische. Ehrlich gesagt, ist es aufregender.
Cass: Worum es mir geht, ist, dem Song zu dienen. Ich lege es nicht darauf an, Solist zu sein oder als Virtuose in Erinnerung zu bleiben. Ich bin Dienstleister innerhalb des Songs. Das ist für gewöhnlich einfacher, aber besser. Denn unser Lead-Instrument ist die Stimme. Lass dieses Lead-Instrument seine Rolle erfüllen und ich mache als Begleit-Spieler einfach meinen Job.
MusikBlog: Ist „Craziness“ nicht oft auch ein Kriterium für den Überraschungsfaktor? Denn wir Kritiker*innen empfehlen ja manchmal begeistert Alben, die erst einen Hype erleben und am Ende eines Jahres schon vergessen sind.
Cass: Hm. Nun, ich hoffe, wir werden nicht so schnell vergessen. Für mich besteht der Härtetest eines Albums darin, wenn du es zum ersten Mal vor Publikum spielst, wenn es brandneu und unvermittelt auf die Ohren der Leute trifft. Und so weit, wie ich die unveröffentlichten Songs spielen konnte, habe ich die Kraft des Albums gespürt. Ich kann sie fühlen.
Skin: Ich denke, es ist ein frisches Album mit modernen Klängen. Das Verletzendste, das du uns sagen könntest, wäre, „Oh, das hört sich wie Skunk Anansie in den 90ern an, wie toll“. Dann würde ich zurück fragen: „Wirklich?! Haben wir uns keinen Zentimeter bewegt?“
MusikBlog: Langweilt euch denn eure eigene Vergangenheit?
Skin: Nein! Wir sind einfach nicht nostalgisch.
MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.