Marissa Nadler hat in Nashville das introspektive Album „New Radiations“ aufgenommen, das diese Woche erscheint. Es steckt voller textlicher Finessen und kehrt in den eindrucksvollsten Momenten auf Text- und Musik-Ebene das Psychedelische hervor, das immer ein bisschen Nadlers Schaffen kennzeichnete. Kommerziell gesehen lohnen sich für die jung gebliebene 44-Jährige ihre Mühen im Studio kaum noch. Wovon sie lebt, was sie von Physik hält und welche Bedeutung Psychologie und Psychedelia für sie hat, erzählt sie uns im Gespräch.
MusikBlog: Dein Album „New Radiations“ – übersetzt „Neue Strahlungen“ – treibt sich viel im Weltraum und inmitten physikalischer Phänomene herum. Was hat es damit auf sich?
Marissa Nadler: Nun ich denke, auf dieser Platte findest du eine ganze Reihe an Charakteren hoch oben in der Luft, zwischen den Wolken, in Flugzeugen, Raumschiffen. Eine meiner ‚eskapistischsten‘ Fantasien ist es, fernab des Lärms der Welt zu landen. Und ich mag es auch sehr, von Zeitreisen zu träumen.
MusikBlog: Viele Begriffe, die du benutzt, angefangen beim Albumtitel, weiter dann in einer Reihe von Songzeilen, referieren auf Schwerkraft, Strahlung, Satelliten, Lichtwellen und so weiter. Nun ist Physik etwas, das polarisiert – zwischen Menschen, die Physik schon als Schulfach lieben oder hassen. Wie gerne beschäftigst du dich mit Magnetismus und ähnlichen unsichtbaren Phänomenen?
Marissa Nadler: Wir leben in einer Welt, die immer noch viele Mysterien und Unergründetes hat. Ich war immer an Naturwissenschaften und an Astronomie interessiert. Es ist viel interessanter, einem Song mit Hilfe solcher Metaphern einen besonderen Rahmen zu bieten, übertragen an einen anderen Ort und in eine andere Zeit, als zu singen: „Ich sitze in meinem Schlafzimmer und bin traurig“. Somit sind das wichtige lyrische Handwerkszeuge für mich. An ihnen kann ich mich üben.
MusikBlog: Man sagt ja generell, das Literarische würde umso anspruchsvoller und intensiver, je mehr eine problematische soziale Wirklichkeit, schwierige Kindheit etc. dahinter stünde und dass so etwas oft den Ausschlag für dunkle, intensive Werke gebe. Düsternis steckt ja auch viel in deiner Platte. Wie stehst du zu dieser Theorie?
Marissa Nadler: Ja, meiner Ansicht nach ist es so: Selbst wenn einem bestimmte Umstände aus der eigenen Umgebung nicht bewusst sind, ist es hart, in einem Vakuum zu komponieren und frei von der tatsächlichen Welt, die dich prägt. Denn als Autorin absorbierst du all die Energien des Universums.
MusikBlog: Treibt dich dann auch ein Interesse an Psychologie um?
Marissa Nadler: Ich interessiere mich dafür, wie Leute ticken und für deren individuelle Geschichten, zumal meine Musik recht emotional und nuancenhaft in ihren Gefühlsverläufen ist und auch nicht so klar und eindeutig oder trocken. Ja, ich habe ein Interesse daran, wie Menschen funktionieren.
MusikBlog: Dieses Faible spiegelt sich auch in deinen neuen Songs „If It’s An Illusion“ und „Hatchet Man“ wider. Fangen wir mit „If It’s An Illusion“ an. Wie würdest du den Track beschreiben?
Marissa Nadler: „If It’s An Illusion“ ist ein Song über mich. Es erzählt in der ersten Person von Selbstbekenntnissen. Da geht es um mein eigenes Leben. Er handelt davon, wie ich aus einer langen Beziehung nach einer Trennung heraus trete, in die Illusion einer neuen Freiheit und wieder den Sinn für meine eigenen Belange finde und dabei bin, mich wieder zu erden. Der Song ist eher kahl in seinen Formulierungen.
MusikBlog: Anders schaut es bei „Hatchet Man“ aus. Der ist musikalisch verspielter und steht auch lyrisch dazu ziemlich im Kontrast?
Marissa Nadler: „Hatchet Man“ ist eine kleine Vignette, eine Stimmungs-Skizze – ich visualisierte eine Szene in einem Motel-Raum. Die Texte sind ganz schön verhüllt. Selbst wenn man sie sich Wort für Wort durchliest, ist es schwierig, zu verstehen, was da vor sich geht. Der Chorus präsentiert eine blutige Mord-Szene – der Mörder bringt eine Frau, mit der er ein Date hatte, zurück zu ihr nach Hause, das heißt, in ein Motel, und dann tötet er sie. Dabei ist am Ende trotzdem ein Song heraus gekommen, der ziemlich eingängig ist.
MusikBlog: Wie kommt man auf so ein Szenario?
Marissa Nadler: Manchmal gehe ich einfach mit dem Flow und lande dann in einem einigermaßen griffigen Lied, und dabei weiß ich gar nicht, wo der Song her kam. Er soll dich übrigens nicht zum Weinen bringen, sondern stattdessen eher zum Nachdenken. Das erfassen nur wenige Leute bei meiner Musik: Sie zielt oft gar nicht auf die Traurigkeit ab, sondern aufs Augenzwinkern, sobald man mitdenkt.
MusikBlog: In „Hatchet Man“ steckt gestalterisch auch eine Portion Psychedelic. Was bedeutet der Begriff für dich?
Marissa Nadler: Psychedelia ist meiner Auffassung nach wie ein Raum, in den du eindringst. Im ersten Moment, wenn ich das Wort psychedelisch höre, denke ich stets an visuelle Dinge: Platten-Cover, Strudel-Muster, Halluzinationen. Im nächsten Schritt denke ich an Bands wie Pink Floyd, die einen großen Klang-Raum erschaffen. Ob es Musik oder Malerei oder Literatur ist, es handelt sich um eine surreale Idee oder anders gesagt, eine Welt, die nicht von dieser Welt ist, mit einer Menge an Atmosphäre. Insbesondere in „Hatchet Man“ ist jener Raum vielleicht wie bei einer mit Staub gefluteten Straße. So stelle ich mir den Rahmen vor.
MusikBlog: Und identifizierst du dich dann mit dem zusammengesetzten Wort Psychedelic-Folk?
Marissa Nadler: Einige meiner ersten Tourneen waren mit einer Band namens Espers. Und mit den Psych-Folk-Leuten – vielleicht hat man das vergessen – wurde ich anfangs oft in Verbindung gebracht und in einer Reihe aufgezählt. Ich denke, meine Musik ist in dieser Hinsicht ein bisschen düsterer als Singer/Songwriter-Folk, von daher kommt es zu diesem Begriff.
MusikBlog: Die dunkle Seite fällt auf. Wenn man die Szenarien deiner aktuellen Songs nimmt, „To The Moon King“, „Smoke Screen Selene“, Zweifelsgetränktes wie „If It’s An Illusion“, dann die genannten Blicke in den Sternenhimmel mit „Sad Satellite“, „Light Years“ oder das Astronautin-Lied „Weightless Above The Water“. Wenn man dann noch die Melancholie hinzu nimmt, kann man dann sagen, „New Radiations“ ist vornehmlich ein Nachtalbum?
Marissa Nadler: Ja, ich denke, nachts ist die passende Zeit, tatsächlich ist es Nachtmusik. Persönlich bin ich eine Nachteule und kann mir schon vorstellen, dass diese Musik nachts geeigneter ist. Wobei das nicht zwingend ist. Sie dürfte auf einer Autobahn bei einer nächtlichen Fahrt gut funktionieren. Besonders, da all die Lieder zusammen hängen, weil ich sie als einen Block geschrieben habe und sie um ein ähnliches Setting mit aneinander hängenden Bildern kreisen, wie ein Ensemble. Von einem Konzeptalbum würde ich zwar nicht sprechen, aber es gibt diese Klammer zwischen den Songs. Die Kohärenz eines Albums war mir ein Anliegen.
MusikBlog: An allen Songs war auch die gleiche Person mit dir zusammen beteiligt, Milky Burgess. Magst du ihn einmal vorstellen?
Marissa Nadler: Ja, er lebt mit mir zusammen in Nashville, ist jetzt aber gerade nicht hier. Ich habe Milky durch seinen Produzenten getroffen, der hatte ihn wiederum in Seattle angeheuert, und zwar im Black-Metal-Milieu. In diesen Kreisen sind etliche Leute unterwegs, die meine Musik mögen. Milky und ich haben schon Sessions mit Blues gemacht und planen später im Verlauf diesen Jahres Jahres ein Projekt, bei dem ich singe und wir mit einem Bandmitglied von Tangerine Dream arbeiten, einem Musiker, der mich aus dem Nichts heraus auf Instagram kontaktiert hat. Wir werden Cover von düstereren Nummern, zum Beispiel von DocWatson-Songs auf soundtrack-artigen Ambient-Musikbetten spielen. Es handelt sich um etwas ganz anderes nach dieser persönlichen introspektiven Platte jetzt, und ich denke, die Leute werden das mögen.
MusikBlog: Das betrifft auch die Tour nach Deutschland?
Marissa Nadler: Nein, aber Milky begleitet mich auf Tour. Wenn ich nach Deutschland komme, werden wir als Duo auftreten. Er spielt Pedal-Bass mit seinen Füßen und weitere Instrumente mit seinen Händen. Somit fahren wir nur uns selbst herum und wir werden keinen großen Tour-Bus brauchen.
MusikBlog: Du produzierst deine Musik selbst?
Marissa Nadler: Ja, beim Produzieren werde ich nach und nach immer besser, und ich mache auch die Tour-Plakate und vieles Organisatorische selbst. Das verschlingt sehr viel Zeit.
MusikBlog: Damit bist du sehr selbständig. Oft analysiert man heute, das fehle bei Frauen im Musikgeschäft. Wir leben ja in einer Zeit der Gender-Sensitivität, man kann sagen, endlich, auch in Bezug auf die Mechanismen innerhalb der Musikindustrie. Schaut man auf die Frauen im Folk, dann sind die Jüngeren zwar im Gleichgewicht mit den männlichen Folkies vertreten, doch die Älteren aus den 90ern, wie Paula Cole oder Ani DiFranco, bleiben oft weitgehend unbeachtet. Wie erklärst du dir das?
Marissa Nadler: Die Gründedafür sind mir auch nicht bekannt. Ehrlich gesagt, hört man über beispielsweise Ani heute in Amerika auch nicht gerade viel. Als Teenager war ich sehr in ihrer Welt drin, hatte sogar ein Righteous Babe T-Shirt. Das passte zu der Phase, in der ich auch gleichzeitig ‚punky‘ war und die Riot-Grrrl-Bewegung mich ansprach. Die Algorithmen machen es dagegen solchen Künstlerinnen heute nicht so leicht. Was ich mir auch vorstellen könnte, ist, dass diese Künstlerinnen eben – zumal sie älter geworden sind – sich mehr entspannen und andere Wege eingeschlagen haben, um Geld zu verdienen, gerade weil sie es in den Streaming-Diensten nicht tun.
MusikBlog: Man trifft ja sowieso nur noch wenige Musiker*innen, die von Musik leben können. Womit verdienst du dein Geld?
Marissa Nadler: (lacht) Ein bisschen mit der Musik. Wenn ich nicht auf Tour bin, unterrichte ich abends Malen und Zeichnen für Erwachsene. Aber diese Arbeit ist sehr flexibel, mein Tour-Schedule deckt ja manchmal sogar fünf Monate ab, in denen ich weg bin. Einerseits ist diese Kunst-Karriere ein guter Weg, aus der Musikwelt auszubrechen. Andererseits sind das Möglichkeiten, das Einkommen effektiv aufzubessern. Denn du müsstest sonst eine gewisse Anzahl an Streams erreichen, was schwierig ist.
MusikBlog: Musikalisch stehen die Neunziger ja auch weit mehr als die meisten Jahrzehnte für zahllose Innovationen. Stilistisch verblüffen bis heute etwa die ganzen Londoner Fusionen wie Acid-Jazz, Big Beat, Drum and Bass, Jungle, Trip-Hop und vieles mehr. Bist du damit auch in Kontakt gekommen?
Marissa Nadler: Oh, mich hat es, wiederum an der Highschool, tief in den Shoegaze-Style reingezogen. Mazzy Star hatten eine enorme Bedeutung für mich. Ich mochte die Band Belly, und Tanya Donelly ist tatsächlich eine Freundin von mir aus Boston. Ich stehe auch auf Slowdive. Diese Ära hat schon ziemlich meinen Stil geprägt. Daraus resultiert auch meine Liebe für Harmonien. Ich mag diese Bands heute immer noch.
MusikBlog: Wie schaust du generell auf die Musik des Jahres 2030 voraus – was wird sich ändern?
Marissa Nadler: Je beliebter Künstliche Intelligenz wird, desto beliebter wird auch wieder das Gegenteil. Ich schätze, dass es da schon einen Bedarf an Menschlichkeit gibt. Die Leute werden genug davon bekommen, glattes Zeug zu hören, und auch die Gitarre wieder mehr wertschätzen. Auch wenn Computer für uns jetzt Musik anfertigen können, gehe ich davon aus, dass die Menschen echte Musik hören wollen.
MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.