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Holly Herndon – Platform – Schöne neue Welten

Wieviel Zeit nimmt man sich heute noch als Hörer? Musik fliegt in jeder Ecke herum, und wird in unüberschaubaren Massen stetig weiter in die Welt gepumpt. Für quasi nichts kann man sie in Millionen Songs schweren Flatrate-Paketen bekommen. Die nächste Band oder der nächste Musiker ist im Internet immer nur einen weiteren Klick entfernt. Und was sich nicht direkt oder zumindest nach dem zweiten Hören erschließt, wird schnell abgehakt.

Für Holly Herndons „Platform“ wird man jedenfalls mehr von seiner Zeit investieren müssen, denn das Album öffnet sich zunehmend erst nach ein paar Durchläufen. Virtuos balanciert die Amerikanerin auf den zehn Stücken ihres Longplayers im Grenzbereich zwischen experimenteller Elektronik und Avantgarde-Pop herum. Beim ersten Hören hat man das Gefühl, dass man in einem Dschungel von komplex verschlungenen Soundcollagen, Geräuschfetzen, herumgeisternden Gesangsfragmenten, schemenhaften Hooks und zerfasertem Pop ausgesetzt wurde.

Erst nach und nach schälen sich Melodien, Beats und Strukturen raus, die eine ganz eigene Form digitaler Poesie offenlegen. Es ist, wie wenn man ein Haus mit zehn Räumen betritt, in dem jeder eine ganz eigene futuristische Welt beinhaltet. Und bis sich die Augen an das jeweils wechselnde Raumlicht gewöhnt haben, dauert es eben eine Weile, um die Details und die innere Gestaltung erkennen zu können.

Kennt man Holly Herndons Bio, dann überraschen diese Expeditionen in noch relativ unkartographierte Musikgebiete nicht. An der Universität von Stanford macht sie gerade ihren Doktor im Bereich „Computer Research in Music and Acoustics“. Vorher studierte sie unter anderem bei Avantgardekomponisten wie Fred Frith, Maggi Payne und John Bischoff. Und dafür, dass ihr musikalischer Ansatz nicht zu trocken akademisch gerät, sorgen die Erfahrungen, die sie über Jahre als DJ in diversen Berliner Techno- und Elektronikclubs gesammelt hat. Mit ihrem dritten Album „Platform“ zeigt Herndon, dass sie in diesem Bereich inzwischen eine abgeklärte Reife erreicht hat.

Wenn man sich auf die anfänglich sperrigen, frickeligen Klänge eingelassen hat, so ist „Morning Sun“ eines der Stücke, das sich am schnellsten erschließt. Man bemerkt ganz simple Gesangsmelodien, die durch verspielte Sounds und eigenwillig inszenierte Backgroundstimmen fast schon einen Popsong ergeben. Einen, der durch ein Zeitloch aus dem Jahr 2250 in die Gegenwart gefallen ist und der einem dann als Ohrwurm im Kopf rumspukt. „Morning Sun“ ist auch der wärmste Song auf der Platte. Und da wäre ein kleiner Kritikpunkt. „Platform“ hat schon eine etwas kühle Atmosphäre. Aber auch dafür gibt’s ja Stimmungen, in denen das passt.

Alles in allem ist es schwierig, sich diesem Album mit Worten zu nähern. Aber schön, dass es Musiker wie Holly Herndon gibt, die ihr Talent und Können dazu einsetzen, klangliches Neuland zu entdecken. Die es schaffen, fernab von jeder „Das klingt doch wie…“- Hörroutine, einem erst mal diverse Fragezeichen in den Kopf zu zaubern.

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