Wo Materie, da auch Anti-Materie. Wo Pasti, da auch Antipasti. Wo Lopen, gibt es selbstverständlich auch Antilopen. Und wo Folk, da existiert natürlich auch Anti-Folk. Allerdings handelt es sich bei den Musikern, die dieses Genre betreiben weniger um schurkenhafte Gestalten in seltsamen Comic-Kostümen und Gesichtsmasken, die mit boshaftem Lächeln, Kryptonit betriebenen Synthesizern und Vereisungsstrahlen erzeugenden Gitarren aufrechten Neo-Folkern wie Mumford & Sons das Leben schwer machen.

Anti-Folk hat seinen Ursprung im New Yorker East Village der Mittachtziger. Beeinflusst vom Sechziger Folk a la Bob Dylan und der ersten Punkwelle der späten Siebziger, entwickelte sich dort eine Szene, die sich bewusst unkommerziell und politisch orientierte. Dementsprechend stand man in Sachen Punk auch eher Anarcho-Bands wie Crass näher als den Sex Pistols. Im Lauf der Jahre kamen aus der Anti-Folkszene Musiker und Bands wie z.B. Beck, Moldy Peaches/Adam Green, Regina Spektor, Ani DiFranco und Ben Kweller.

Ebenfalls eine Institution in diesem Bereich ist Jeffrey Lewis. Mit „Manhattan“ legt der 40-jährige New Yorker jetzt sein möglicherweise zehntes Studio-Album vor (diverse Kollaborationen u.ä. lassen eine genaue Zählung ein wenig schwierig werden, wer mag, möge sich seine etwas krause Diskographie selber zu Gemüte führen).

„Manhattan“ also. Und wenn es schon drauf steht, ist natürlich auch Manhattan drin. Textlich kreisen die elf Stücke des Albums fast ausschließlich um das Leben auf der New Yorker Insel. Geschichten um durchgeknallte Nachbarn (“Sad Screaming Old Man“), Liebesenden („Back To Manhattan“), den menschlichen Reprodutionsdrang („Have A Baby“) und ähnliche Einblicke in allgemeinmenschliche Alltäglichkeiten, bei denen sich durch Lewis Blick hinter die Fassade gerne mal bizarre Abgründe auftun. Inklusive Schmerz, Ängsten, Paranoia und anderer emotionaler Zustände. Klingt düster, kommt aber durch Jeffrey Lewis Sinn für eigenwilligen, absurd nihilistischen Humor sehr gut unterhaltsam austariert.

Und auch sehr gekonnt. Wie zum Beispiel in „The Pigeon“. In einer schrägen Variante von Edgar Allen Poe’s Goth Klassiker-Gedicht „The Raven“, ist es bei Lewis eine Taube, die einen jiddisch brabbelnden Bewohner der East Side in den Wahnsinn treibt.

Auch vor seinem eigenen Job macht Lewis Spot nicht halt. Auf “Support Tours” gibt er einen ziemlich galligen und leider realistischen Einblick in das lustige Musiker(über)leben. Dabei sind seine Geschichten immer absolut auf den Punkt erzählt. Möglicherweise auch ein Resultat seiner anderen Profession, denn neben der Musik hat sich Jeffrey Lewis auch noch als Comic-Zeichner einen Namen gemacht.

Vorgetragen werden diese Stories mit einer abgeklärten Stimme, die nicht selten an Lou Reed erinnert. Auch musikalisch liegen Velvet Underground dabei nicht ganz so weit entfernt. Stimmungsmäßig pendelt er dabei zwischen den beiden Polen extrem relaxt („Scowling Crackhead Ian“, „Back To Manhattan“, „It Only Takes A Moment“, „Thunderstorm“) und folk-punkig überdreht („Sad Screaming Old Man“, „Avenue A, Shanghai, Hollywood”, “Have A Baby”). Diese Tempo- und Lautstärkewechsel können im Ablauf zwar schon manchmal etwas anstrengend sein, aber dafür funktionieren die Songs in sich immer absolut stimmig. Und eine zu homogen klingende Abfolge kann zuweilen ja auch eintönig sein.

Mit „Manhattan“ ist Jeffrey Lewis jedenfalls ein gutes und ziemlich unterhaltsames Album gelungen. Eine ursprüngliche und urwüchsige Alternative zu vielen aktuell grassierenden Hochglanz und Trendfolk Klampfern.

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