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Kettcar – Ich vs. Wir

Kettcar sind auf „Ich Vs. Wir“ politischer denn je. Das hat sich bereits mit der großartigen Vorabsingle „Sommer 89‘“ abgezeichnet. Das fünfte Album der Band ist nicht immer so direkt wie diese wunderbare Prosa über einen Fluchthelfer an der Österreich-Ungarischen-Grenze – aber immer unmissverständlich.

Nicht, dass die Hamburger jemals unpolitisch gewesen wären. Ihre Songs kreisten nur eher ums Privatpolitische, und waren dabei gerne auch kryptisch verschleiert. Auf dem Vorgänger „Zwischen Den Runden“ schloss sich das Persönliche und Zwischenmenschliche sogar komplett in die eigenen vier Wände mit zugehörigem Schlafzimmer ein.

Jetzt gehen Kettcar den umgekehrten Weg. Sie drängen nach draußen, als Beobachter, von Pegida, AFD, politischer Idiotie und wachsender Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich.

Mit subtilem Storytelling rekonstruiert Sänger und Textdichter Marcus Wiebusch aus der „Mannschaftsaufstellung“ die Taktik der rechten Wutbürger. „Und als wir gemeinsam vor dem Radio saßen, die Aufstellung hörten, unser Abendbrot aßen, nahmst du meine Hand und sagtest ‚Liebling, ich bin gegen Deutschland“. Da schiebt Wiebusch das Gesellschaftspolitische einfach wieder zurück in einen illustrativen Mikrokosmos.

Es lässt sich eben nicht so einfach trennen zwischen Privatem und Politischem, erst recht nicht für einen so äußert begabten, links-intellektuellen Texter. Der Unterschied zu früher: Man muss nichts mehr dechiffrieren. Und Interpretationsspielraum bleibt auch keiner. „Wagenburg“, „Den Revolver entsichern“ oder „Auf den billigen Plätzen“ – alles tagesaktuelle Observationen der durchaus besorgniserregenden Entwicklungen in diesem Land.

Wie die sich wiederum auf individueller Ebene niederschlagen, können Kettcar auch besser erklären als alle anderen: „Der ewige Anspruch/ und sich ständig vergleichen/ Wir haben ein Leben Zeit/ Ein Leben/ Und das muss dann auch mal reichen.“ Das Schöne an solchen Zeilen: Jeder darf darin wehleidig auf sein eigenes Schicksal treffen und sich mit Kettcar im Trotz verbrüdern.

Diese entscheidende Renitenz hallt nirgendwo länger nach als in „Trostbrücke Süd“, wenn Wiebusch singt: „Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser“. Die gute Musik wiederum, zu der diese Zeilen gehören, sie geht nach vorne, hat ordentlich Popappeal und verzichtet auf jeglichen Schnickschnack. Ein Gitarren-Indiepop-Album zum Tanzen, wenn es nur nicht so ernst wäre.

Dass Kettcar so zurückkommen würden, war nicht zu erwarten. S­ie schienen nach „Zwischen Den Runden“ mindestens angezählt – auch weil Wiebusch mit seinem Soloausflug „Konfetti“ zwischenzeitlich bedeutsamer wurde als seine Hauptband.

Doch alleine ein Song wie „Sommer 98“ löst alle Zweifel in Luft auf. Das Stück sollte zur schulischen Pflichtlektüre werden. Wer ohne Reime, ohne Versmaß und ohne Hookline in der Strophe gleichzeitig einen so mitreißenden, eingängigen und historisch wertvollen Song abliefert, der ist wichtiger als jemals zuvor.

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