Man hat es nicht immer auf dem Schirm, aber Kanada war schon immer ein absolutes Schwergewicht, was alternative Gitarrenmusik anbelangt: An welches Untergenre man auch denkt, man hat immer sofort einige grandiose Beispiele dafür parat.
Bei verträumtem Indie-Pop der 2010er haben etwa Alvvays aus Toronto die Nase vorn und zwei wundervolle Platten herausgebracht, die dritte folgt im Oktober. Seit 2018 scheint allerdings ein neuer kanadischer Stern am Dream-Pop-Firmanent: Tallies brachten 2019 ihr selbstbetiteltes Debütalbum raus und klangen darauf nostalgisch, zart und wunderschön.
Diese Kombination funktionierte für das frische Quintett wunderbar, trotzdem war zu spüren, dass da noch Arbeit nötig ist – zu sehr lehnten sich die Songs woanders an, klangen zu sehr wie die Toronto-Kolleg*innen oder wie die Smiths oder Chastity Belt.
Zugegebenermaßen verändern nun die allerwenigsten Debütalben die Welt, was Tallies allerdings durchaus bewusst war: Die vergangenen drei Jahre nutzte die Band, um sich soundmäßig selbstständiger zu machen, ohne das zurückzulassen, wofür sie kreativ stehen.
Das hört man nun auf “Patina”: Der Sound der neun Songs wirkt längst nicht mehr so steril und steif, die Betonung legen die Kanadier*innen nun deutlich auf den ersten Teil des Begriffs “Dream-Pop”.
Das Album klingt tiefgreifend und emotional, ohne sich in käsigem Geklimper zu verlieren. Verantwortlich ist dafür Produzent Graham Walsh, der schon bei Alvvays und ebenfalls den kanadischen Noise-Punks Metz ausgeholfen hat – ein Experte also, wenn es um die passende Atmosphäre geht.
Auch das Songwriting hat einen Feinschliff erlebt: Nach wie vor schillert die Melodiefreude in allen Ecken bunt und von Grund auf glücklich, allerdings ist etwas von der Angst verschwunden, diese Melodien auch in neue Kontexte zu setzen.
Wo die Band auf dem Debüt noch Songs schrieben, die wie die Smiths, wie Sixpence None The Richer, wie Alvvays klingen wollten, sind diese erzwungenen Assoziationen aufgebrochen. Ohne die haltende Hand ihrer Vorbilder stoßen Tallies nun selbst in die ersten Schritte des Indie in den 80ern vor, erkunden den poppigen Shoegaze der 90er im Alleingang und schwelgen in ihren eigenen Jugenderinnerungen der späten 00er und frühen 2010er Jahre.
Das gibt der Band aus Toronto eine eigenständige Stimme, die sie auf “Patina” erforschen und entdecken – zwar noch zögerlich, aber das Potenzial zum gefestigten Selbstbewusstsein ist zu erkennen. Heraus kommen dabei schwelgende Songs, die plötzlich auch psychedelische Versatzstücke preisgeben. Oder sich kurz mal im Surf-Rock tummeln. Sich sogar zeitweise in schrammeligen Garagen austoben.
Hier werden die eigenen Grenzen ausgetestet und zeitweise sogar vorsichtig überschritten. Die Songs allein sind bereits eine Wonne für die Ohren. Dazu macht es ebenso viel Spaß, beim Wachsen des Quintetts hautnah dabei zu sein.