Das fünfte Album wie ein Debütalbum mit dem Bandnamen “Die Nerven” und dem Arbeitstitel „das schwarze Album“ zu benennen, ist eine Ansage für sich. Haben Die Nerven jetzt final zu sich gefunden oder spielen sie mit dem Bruch von Konventionen?
Der ratlose Blick in die Leere vom schwarzen Schäferhund auf dem Cover trifft den Tonfall der Scheibe ganz gut. Die ersten beiden Stücke „Europa“ und „Ich sterbe jeden Tag in Deutschland“ bleiben direkt vor der Haustüre. „Und ich dachte irgendwie, in Europa stirbt man nie…“ in den unterschiedlichsten Tonlagen von wehmütig bis angefressen.
Geht nicht mehr aus dem Kopf. Ohrwurm-Material. Erstes düster aggressives Knarzen und Schnarren fräst sich aus dem Hintergrund nach vorne. „Deutschland muss in Flammen stehen! Ich will alles brennen sehen!“ Von den Nerven klingt das nicht nach Schlachtruf a la Slime, sondern nach dringlichem Weckruf.
„Keine Bewegung“ verdichtet sich zurückhaltend. „lass Dich treiben oder treib es an; ich könnte überall hingehen, aber kann mich nicht bewegen“. Bedächtig steigert sich der Noise-Level hin zum typischen Sound der letzten Scheiben. Nur kommt es diesmal konkreter und genauer daher.
„Alles reguliert sich selbst“ hält den Energielevel hoch, besticht mit komplexeren Einlagen. „Kalte Kriege, Erhöhte Miete, überhöhtes Selbst, verbrannte Erde, verbrannte Städte, verbranntes Geld.“ Klappt wohl super die Regulierung. Abgesang auf den Neoliberalismus?
„Ganz Egal“ hüpft als stimmungsgeladene Punk-Nummer durch die Hallen, bevor sich ein Influencer mit Fragen zu dramatischen Streichern in den Schlaf weint. „Das ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Lass die anderen sich ändern. Bleibe für immer hier stehen. Es muss weiter gehen.“
„Der Erde gleich“ startet leise, düster, minimal, um dann um so mehr zu explodieren und die unterschwellige Wut mit einer Wand aus komplexem Krach nach vorne zu schieben.
„15 Sekunden“ kommt keine Sekunde zur Ruhe. Selbst die leiseren Stellen strotzen nur so vor hibbeligem Vorwärtsdrang.
„Der Tod läuft nicht gut auf Instagram.“ wohl der beste Eingangssatz auf der Platte. „Baby, setz den Wagen an die Wand. 180 Grad, halbe Drehung, ganze Wende, der Anfang vom Ende…!“ „180°“ beendet die Scheibe musikalisch.
Inhaltlich jedoch absolut nicht. Alle Wunden der vorherigen Stücke werden weiter aufgerissen. Vorwärts oder Rückwärts? Stillstand, Flucht oder Änderung? Ohnmacht oder Wut? Hoffnung oder Desillusion? Beim letzten Stück wohl eher die Kapitulation.
Antworten liefert „Die Nerven“ keine. Dafür umso mehr in Emotion ausgedrückte Fragen. Faszinierend, wie heute jede Zeile einen tagesaktuellen Nerv trifft, wurden die Texte doch vor gut drei Jahren geschrieben.
Musikalisch haben sich die drei Schwaben auf den Punkt perfektioniert. Ob das der konzentrierteren Arbeit oder der langen gemeinsam Zeit zu verdanken ist, bleibt am Ende egal. Sie bleiben sich über alle Platten treu und werden immer eingängig komplexer und dichter. Großes Post-Punk Kino, auch wenn sie sich selber nicht in dieser Schublade sehen.