Dass es keinen einleuchtenden Grund dafür gibt, dass Rock-, Alternative- oder Soul-Musik auf Englisch sein muss, dachten sich schon in den 1980ern Peter Gabriel und David Byrne. Sie hoben Label-Plattformen aus der Taufe, die Gleichwertiges aus allen Kontinenten in verschiedenen Sprachen aufboten.

In die alevitische Lieder-Tradition traute sich aber kaum jemand vorzudringen. Derya Yıldırım aus Hamburg kristallisierte sich mit ihrer Grup Şimşek als Galionsfigur einer perfekten Fusions-Musik in den letzten Jahren heraus. Mit Organist Graham Mushnik nahm die Frontfrau und Multi-Instrumentalistin zwischenzeitlich außerdem eine Platte voller Kinderlieder auf.

„Yarın Yoksa“ heißt das neue Album, ihr drittes, neben etlichen Vinyl-EPs. Übersetzt heißt der Titel in etwa „Wenn es kein Morgen gäbe“. Deryas hauptsächlichen Werkzeuge, die man auch sehr gut heraus hört, sind die Bağlama-Laute und ihr bebender, bisweilen flehender Gesang.

Ihre Sprache ist Türkisch, ungeachtet dessen, dass die anderen Band-Mitglieder die Texte somit kaum verstehen, genauso wie der Großteil des Publikums in Ländern wie Frankreich oder Dänemark, wo die Band inzwischen erfolgreich tourt.

Deryas stilistische Zutaten lauten Psychedelic-Rock, anatolischer Pop der 1960er, Folk. Melancholisches Singer/Songwritertum kommt auch vor und auch Soul-Gehalt lässt sich der neuen Scheibe attestieren.

Von cineastisch gestalteten Takten über sanft-hypnotische Lieder, mit Herzblut erzählte Geschichten und Lebensweisheiten bis zu temperamentvollen Tänzen reicht der Reigen, den die Grup Şimşek auffährt. Inspirationen finden sich im interkulturellen Zusammentreffen der französischen, deutsch-türkischen und südafrikanischen Mitglieder, in Volksliedern und in türkischer Literatur des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt von politisch aktiven Schriftstellern.

Ein bunter, reichhaltiger, kurzweiliger und intensiver Longplayer ist „Yarın Yoksa“ geworden. In vielen Fällen entgleisen die Brückenschläge zwischen Tradition und Moderne gewaltig, rutschen ins Stereotype und Vorhersehbare ab, dieses Album hingegen tappt nicht in diese Falle. Verbindendes Element der meisten Tracks ist die dominante Orgel, die an die großen Psychedelic-Meisterwerke der späten Sechziger denken lässt.

Während wonniger kalifornischer Sonnenschein-Soul in „Cool Hand“ die Oberhand ergreift, zeigt sich die vielseitige Crew im nächsten Moment bei „Yakamoz“ eher betrübt, gedämpft und nachdenklich. Dort setzt die Grup Şimşek das Lebensgefühl Geflüchteter und Vertriebener musikalisch in Szene.

Oft sind die Texte philosophisch oder abstrahiert. Und wenn selbst wenn sie einmal sehr greifbar werden, lassen sie sich auf viele Einzelfälle anwenden: „Blut Unschuldiger überströmt den Boden / die Tyrannen ließen sich nicht zur Rechenschaft ziehen / die Kinder, die auf diesem Boden zur Welt kamen / werden denen nicht vergeben, die Land stehlen, auf dem andere schon wohnten“ heißt es zum Beispiel im tief traurigen Anti-Kriegs-Lied „Direne Direne“.

Natürlich ist diese Musik recht speziell, nischig, dadurch aber auch erfrischend. Formal besticht das Album durch seinen außergewöhnlich starken, stringenten Spannungsbogen mit einzelnen Top-Songs bis hin zu einem exzellenten Instrumental.

Virtuoses Spiel an allen Instrumenten, neugierig machende Melodien, hochwertige Produktion, großartige Abmischung, vorbildliches Mastering: „Yarın Yoksa“ qualifiziert sich schon im März für die Top-Alben des Jahres 2025.

Schreibe einen Kommentar

Das könnte dir auch gefallen

Album

The Cat Empire – Bird In Paradise

Album

xena – superstar

Album

Acht Eimer Hühnerherzen – Lieder

Login

Erlaube Benachrichtigungen OK Nein, danke