Ihr fünftes, selbstbetiteltes Studioalbum „St. Vincent“ ist noch nicht einmal in den Regalen der Plattenläden zu finden, da schnappt sich Annie Clark schon ihre Koffer und begibt sich auf Tour, um die neuen Songs live zum Leben zu erwecken bevor sie Ende des Monats dann ganz offiziell für jederman zugänglich sind. Dass sie sich als weltweiten Start ihrer „Digital Witness Tour“ extra Berlin ausgesucht hat, kommt auch nicht von ungefähr. Betonte sie doch schon in der Vergangenheit häufig ihre Affinität zur deutschen Hauptstadt. Und auch auf ihrem neuen Album gibt es da diese kleine textliche Berlin-Referenz im Song „Prince Johnny“, in dem sie davon singt ein Stück der Berliner Mauer zu schnupfen.
Schon beim Betreten des Postbahnhofs fällt eines auf – es tummeln sich auffällig viele Männer unter den Zuschauern, die die Hälse strecken um einen guten Blick auf die Bühne zu erhaschen. Diese liegen der Gitarren-Virtuosin dann auch schon wenig später zu Füßen und rufen ihr entzückt die obligatorischen Heiratsanträge zu während die weiblichen Fans unter den Zuschauern ebenfalls bewundernd und gebannt das Geschehen auf der Bühne verfolgen. Zum Glück ist die ehemalige Tour-Gitarristen von Sufjan Stevens nicht nur ein optischer Hingucker, sondern hat auch spielerisch einiges auf dem Kasten. Und das bewies die New-Yorkerin scheinbar mit Leichtigkeit eindrucksvoll über volle eineinhalb Stunden.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Annie Clark etwas schüchtern mit ihren großen Augen und der lockigen Wuschelmähne konzentriert die Gitarrensaiten bearbeitete und sich die Kraft ihrer Songs allein aus ihrem Spiel heraus entlud. Zwar entwickelt die Multiinstrumentalistin in dynamischer Hinsicht nach wie vor ein breites Spannungsfeld und beweist eine beachtliche Fingerfertigkeit, jedoch nutzt sie den ihr zur Verfügung stehenden Bühnenraum nun auch mehr als Performerin und fügt dem Ganzen Show-Elemente hinzu, die über das rein musikalische Können hinausgehen.
Das Bühnenbild wurde von einer schneeweissen dreistöckigen Erhöhung am hinteren Bühnenende dominiert, die St. Vincent zwischenzeitlich immer mal wieder erklomm. Entweder, um in schwindelerregender Höhe unter der Bühnendecke Songs wie „Cheerleader“ vorzutragen oder um es sich auf den Stufen liegend bequem zu machen bzw. diese elegant mit Mikrofon in der Hand hinunter zu rutschen. Und das trotz des futuristisch angehauchten Minikleids und den High Heels, auf denen Annie Clark das ganze Set über in kleinen Tippelschritten ihre Kreise über die Bühne zog. Überhaupt hatten ihre Bewegungen beständig etwas Puppen-bzw. Roboterhaftes an sich und jegliche Gestik beruhte auf auf zackigen Bewegungen. Wenn die Finger nicht über den Gitarrenhals glitten, malten sie ganze Bilder in die Luft oder dienten dazu die eingenommenen Posen zu unterstreichen.
Wenn es die Songs zuließen, flossen dann auch noch zusätzlich einstudierte Tanz-Choreographien mit ein, die Annie Clark gerne zusammen mit ihrer weiblichen Bandkollegin vollführte, wenn diese nicht alle Hände am Synthesizer oder ebenfalls der Gitarre voll hatte. Vielleicht liegt es an der doch sehr poppig-elektronischen Ausrichtung der neuen Songs, deren melodiehafte Eingängigkeit geradezu zum Tanzen einlädt, dass St. Vincent nun auf der Bühne verstärkt ihren Bewegungsimpulsen nachgibt. Wirklich nötig hat sie es jedoch nicht in dem Maße über ein ganzes Konzert verteilt immer wieder darauf zurückzugreifen. Die Songs wirken ohne die Fußakrobatik und die Posen nicht minder ausdrucksstark.
Im Gegenteil – gerade in spielerisch sehr anspruchsvollen Momenten, wenn keine Zeit für Show-Einlagen blieb, punktete St. Vincent mit ihrer natürlichen Energie, die sie auch schon mal auf die Bühnenbretter fegte oder wild den Lockenkopf schütteln ließ. Auch bei den wenigen Ansagen zwischen den Songs konnte man sich nie ganz sicher sein, ob die kleinen psychoanalytischen Bemerkungen über das Publikum gerade das Produkt spontaner Eingebungskraft oder doch einstudierte Phrasen waren. Unterhaltsam waren sie zweifelsohne, besonders weil die Zuschauer jede neue angestellte Vermutung mit langgezogenen „Ja’s“ und „Nein’s“ kommentierten.
Mit der Setlist hat sich Annie Clark an diesem Abend im Postbahnhof garantiert viele Freunde gemacht, spielte sie sich doch hingebungsvoll durch einen großzügig angelegten Querschnitt aus ihrem Song-Repertoire, das mit „Birth In Reverse“, „I Prefer Your Love“, „Digital Witness“, „Rattlesnake“ oder auch „Prince Johnny“ einige neue Songs umfasste. Obwohl St. Vincent auf diesen teilweise sehr auf Synthesizer-Grooves setzt und die Gitarre mitunter etwas in den Hintergrund rückt, konnte sich das neue Songmaterial bestens neben älteren Stücken wie „Cruel“ oder „Surgeon“ behaupten und wurde wohlwollend von den Fans aufgenommen. Für St. Vincent dürfte das ein Tourauftakt nach Maß gewesen sein und auch die Fans zogen angesichts einer musikalisch mitreissenden Performance mit Entertainment-Faktor ihren Hut. Chapeau, Madame Clark!