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Wir mussten unseren unhörbaren Noise zum Erfolgserlebnis erklären – Die Nerven im Interview

Ihr Debütalbum „Fluidum“ wurde vor zwei Jahren bis ins anspruchsvolle Feuilleton positiv aufgenommen. Jetzt legt das schwäbische Noise-Trio Die Nerven den Nachfolger “Fun” vor und ist zwar weiterhin ziemlich wütend, aber noch melodiöser und ausgefeilter. Ein Gespräch mit Sänger, Bassist und Songwriter Julian Knoth über schlechte Laune, Misserfolgsaussichten, den Punkstandort Stuttgart und was er für den Sound darin bedeutet.

MusikBlog: Guten Morgen Julian, du wirkst müde?

Julian: Das täuscht, ich bin schon lange auf. Frühaufsteher.

MusikBlog: Punkrock und Frühaufstehen ist kein Widerspruch mehr?

Julian: Mein Tagesablauf ist jedenfalls geregelter.

MusikBlog: Meiner auch. Umso schwieriger ist es, gleich nach dem Frühstück eure neue Platte „Fun“ zu hören, die für diese Tageszeit doch reichlich düster ist.

Julian: (lacht) Das kann gut sein.

MusikBlog: In einer Zeile von „Und ja“ singst du „Ja, es geht mir besser als ich aussehe“. Warum solltest du denn schlecht aussehen?

Julian: Das müsstest du in diesem Fall Max fragen. Normalerweise schreiben wir unsere Texte getrennt voneinander. „Und ja“ ist dagegen komplett im Studio von uns beiden entwickelt worden und diese Zeile stammt von ihm.

MusikBlog: Sie klingt auf jeden Fall, wie so oft in euren Songs, ungemein schlecht gelaunt. Seid ihr das wirklich oder ist das nur der Ausdruck eurer Musik?

Julian: Unsere Musik hat immer auch persönlich mit uns zu tun, aber man muss dennoch klar differenzieren zwischen dem, was wir spielen, und was wir sind. So schlecht gelaunt unsere Stücke also auch klingen mögen – wir selbst sind drei Freunde, die sich und anderen gegenüber meist herzlich und humorvoll sind. Die Nerven ist da eine ziemlich normale Band, deren Humor nur manchmal hinter den Stücken verborgen bleibt.

MusikBlog: Steckt denn auch in der Musik selbst irgendwo ein verborgener Humor?

Julian: Er steckt vielleicht nicht auf den Platten, zieht sich aber durch den Rest unserer Band hindurch. „Fun“ enthält trotz des Titels zugegeben kaum Spaßelemente, trotzdem kann es auf unseren Konzerten heiter zugehen. Das erklärt sich daraus, dass unsere Musik auch ein Ventil ist, um uns abzureagieren und als Personen hinter ihr zu verschwinden.

MusikBlog: Ein Ventil wofür – Wut?

Julian: Ganz sicher. In unserer ersten Phase ab 2010, wo wir – damals noch mit anderem Schlagzeuger – mehr Projekt als richtige Band waren, war diese Wut noch ausgeprägter. Da haben wir eher Kinderzimmer-Noise gemacht, in dem wir alles rausgelassen haben.

MusikBlog: Kinderzimmer im Sinne von LoFi, nicht produziert, sondern mitgeschnitten.

Julian: Genau. Durch unsere feste Struktur ist diese Wut dann zwar milder geworden, nicht mehr so auf den Moment bedacht, aber es gibt sie noch. Das steckt tief in unserer Musik.

MusikBlog: Welche Rolle spielt euer Standort Stuttgart dabei – ist Wut auf die Verhältnisse womöglich größer, wenn sie in einer Stadt stattfindet, die so bieder ist wie ihr Ruf?

Julian: Sie spielt eine Rolle. Aber eher durch ihre Kessellage als das Biedere. Sicher ist in Stuttgart vieles spießig, vor allem aber ist alles sehr begrenzt und damit eng. Zumal sich die Wut durch Stuttgart 21 bekanntermaßen bis in bürgerliche Schichten gefressen hat.

MusikBlog: Stichwort Wutbürger.

Julian. Genau. Stuttgart ist Städten wie Hamburg allerdings nicht nur wegen der Proteste ähnlicher geworden. Die Räume für Kreativität werden ja auch in den Metropolen weniger, nur dass es in Stuttgart keine so lange Geschichte freier Räume wie in Berlin etwa gibt, das derzeit nach und nach gentrifiziert wird. Stuttgart war schon immer gentrifiziert; andererseits zeigt die Entwicklung des Hip-Hop bei uns ja, dass es offenbar früher auch schon solche Freiräume gegeben haben muss. Aber ich fühle mich wohl hier. Und sich Räume zu erkämpfen ist oft schwierig, aber wir finden immer wieder welche.

MusikBlog: Zum Beispiel?

Julian: Am Nordbahnhof, wo wir unsere ersten Konzerte in alten Waggons gespielt haben. Das ist jetzt allerdings weg seit einem halben Jahr.

MusikBlog: Und was ist da jetzt?

Julian: Na nichts. Aber als uns diese Fläche 1999 zur Verfügung gestellt wurde, war bereits klar, dass wir sie ab einem bestimmten Bauabschnitt des neuen Bahnhofs wieder zurückgeben. Das war vorigen Herbst der Fall.

MusikBlog: Dann seid ihr von Stuttgart 21 ja quasi körperlich betroffen.

Julian: Ja, aber in gewisser Weise auch positiv. Ohne Stuttgart 21 hätte es diesen Kulturort womöglich nie gegeben.

MusikBlog: Das klingt schizophren.

Julian: Das ist schizophren. Deshalb haben wir uns neue Biotope gesucht und auch gefunden. Aber das macht ja die Musikszene in Stuttgart so schön, weil sich die verschiedenen Projekte und Bands auf so engem Raum immer wieder treffen. Das ist fast wie Weilheim.

MusikBlog: Das Notwist-Dorf.

Julian: Nur eben nicht so provinziell.

MusikBlog: Hat der Standort einer Band am Ende hörbaren Einfluss auf eine Band?

Julian: Bei uns ist das so. Wir kommen alle drei aus dem Umland und sind somit dort aufgewachsen, wo es abseits von Bandwettbewerben praktisch keine Auftrittsmöglichkeiten für unsere Art der Ausdrucksform gibt. Das hat uns schon früh zu Außenseitern gemacht. Die Nerven sind also auch entstanden, um den Ärger über diesen Zustand zu brechen. Deshalb haben wir zum Beispiel noch im Frühjahr 2012 das erste und einzige Mal bei so einem Contest mitgemacht.

MusikBlog: Aber sicher nicht, um zu gewinnen?

Julian: Nein, um die lauteste Band zu sein. Aus purer Provokation.

MusikBlog: Daher auch der Bandname?

Julian: Um die bestehenden Strukturen des Umlands, aus dem heraus man mit 18 Jahren überhaupt nicht in die Stuttgarter Biotope wie den Nordbahnhof gelangt, zu durchbrechen. Als wir diesen Nährboden dann hatten, haben wir allerdings wieder den Weg zurück eingeschlagen. Unser drittes Konzert war in einem Stuttgarter Nachbarort, wo wir das Stadtfest komplett leer gespielt haben. Vielleicht steckt da ja die anfangs erwähnte Ironie verborgen: Wir mussten es zum Erfolgserlebnis erklären, dass unser unhörbarer, morbide Noise von allen scheiße gefunden wird.

MusikBlog: Aber jetzt, wo ihr zumindest das Unhörbare daran hinter euch gelassen habt – was heißt Erfolg für eine Band, bei der er sich nie in Absatzzahlen messen lassen dürfte?

Julian: In dem Moment, als überhaupt eine Platte von uns offiziell erschienen ist, sind Die Nerven ja bereits größer geworden, als wir uns je ausgemalt hatten.

MusikBlog: Ist der Erfolg nur größer geworden als erwartet oder zu groß?

Julian: Wir denken gar nicht in solchen Maßstäben. Sicher haben wir persönlich musikalisch alle mehr erreicht, als wir früher mal zu träumen gewagt hätten. Eine eigene Schallplatte zu machen, im anspruchsvollen Feuilleton besprochen zu werden oder von Musikern gemocht, die man selber gut findet – das ist eigentlich viel zu verrückt, um es zu ernst zu nehmen. Aber solange wir als Freunde mit der Musik, die wir alle mögen, auf Tour gehen können, geht es nicht um Plattenverkäufe. Dann sind wir auch so erfolgreich.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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