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Live läuft so oder so – Reeperbahn Festival Geschäftsführer Alexander Schulz im Interview

Im neunten Jahr hat sich das Reeperbahn Festival in Hamburg zu einem der wichtigsten Musikereignisse Europas entwickelt. Fast 400 Künstler und Bands zeigen ab heute in 70 Spielstätten, was die globale Independent-Szene Neues zu bieten hat. Trotz der großen Resonanz, die das Festival auch beim Fachpublikum nach sich zieht, dürfe es aber nicht auf amerikanische Verhältnisse wachsen – meint Festival-Geschäftsführer Alexander Schulz (47) in einem Hamburger Kiezhotel, als nebenan gerade ein Schlagerstar mit dem Pop-Fürsten Thomas Stein verhandelt.

MusikBlog: Alexander, gibt es eigentlich einen offiziellen Rekord an Konzerten, die ein einzelner Besucher an den drei Tagen Reeperbahn-Festival bislang geschafft hat?

Alexander Schulz: (lacht) Gezählt haben wir das nicht, aber es gibt natürlich Leute, die haben die vollen drei Tage durchgehalten. Wer dabei fünf Shows pro Abend schafft, also insgesamt 20, dürfte weit vorn liegen. Das Angebot ist ja doch gewaltig.

MusikBlog: Und doch Augenwischerei, ein Trugbild.

Alexander: Inwiefern?

MusikBlog: Insofern, als es den Eindruck erweckt, der Independent-Szene, insbesondere der Hamburger Clubkultur gehe es blendend?

Alexander: Zunächst mal sind wir nicht angetreten, ein bestimmtes, geschweige denn falsches Bild der Realität zu zeichnen. Fakt ist aber, dass es diese gewaltige Zahl an neuen, spannenden Künstlern gibt. Diese Bandbreite bilden wir ab. Ob alle ausreichend im Radio gespielt und bezahlt werden, ob sie gute Auftrittsmöglichkeiten finden und die politischen Rahmenbedingungen – das steht auf einem anderen Blatt. Es gibt bestimmt Leute, die Augenwischerei betreiben und sagen, guckt euch mal dieses Festival an – ist doch alles chiko. Das ist es nicht. Aber wir sind ein Baustein, der helfen kann, all dies auf einen besseren Weg zu bringen. Nur, weil es abseits unseres Festivals 362 Tage Alltag gibt, der auch funktionieren muss, würde ich dieses Highlight nicht lassen. Trotzdem sagen wir nicht, hier ist alles heile Welt.

MusikBlog: Ist das Festival als Ganzes ein Statement gegen die Verhältnisse?

Alexander: Durchaus. Aber wir wollen nicht das Sprachrohr sein, sondern die Plattform für jene, die thematisieren, wie schwer es Independent im Vergleich zu anderen Musikformen so hat. Wenn ich mich so umschaue [blickt zum Nachbartisch, wo der Musikmanager Thomas Stein gerade mit einem Volksmusikstar verhandelt], gibt es dafür reichlich Bedarf. Dafür sind wir ein guter Rahmen, weil hier an vier Tagen ein anderer Auftrieb, vor allem eine andere Aufmerksamkeit herrscht, als böte das Molotow eine einzelne Show an. Das müssen wir nutzen.

MusikBlog: Herrscht denn auf den begleitenden Konferenzen eher ein klagender oder optimistischer Ton vor?

Alexander: Ach, wer Tonträger vertreibt, hat das Klagen doch längst aufgegeben. Alles, was mit Live-Performances zu tun hat, ist dagegen unglaublich gewachsen. Gerade im Herbst und Frühjahr steigt die Zahl der Konzerte so drastisch, dass mittlerweile ein Überangebot bedauert wird. Die klagen also auf einem recht hohen Niveau, während Produzenten noch nicht genau wissen, ob Streaming nun Heilsbringer oder Totengräber der Branche ist. Klar ist, dass auch die Bühne stets digitale oder physische Tonträger braucht, um Künstler bekannt zu machen. Deshalb hat die digitale Revolution auch nicht nur Bedrohungen gebracht, sondern Möglichkeiten. Etwa eine gute Idee kostengünstig aufnehmen und technisch verbreiten zu können. Ob man sich damit durchsetzt, ist eine andere Frage und bindet individuell Ressourcen. Aber die Chancen, sich selbstständig bekannt zu machen, sind gewachsen. Und Musikverlagen geht’s auch weiterhin blendend. Ebenso wie Musikautoren, die ihre Produkte auf diversen Kanälen verbreiten können. All dies bündeln wir erstmals unter der Klammer „Sync“ für Synchronisation, weil viele Künstler ihre Kompositionen eben selber vermarkten, etwa für Werbung oder Games. Das bringt dieses Internet auch mit sich. Es ist alles in Bewegung und hat mindestens zwei Seiten. Du kannst mit drei Akkorden für ein Computerspiel Einkünfte generieren.

MusikBlog: Also scheint die Stimmung insgesamt eher positiv zu sein.

Alexander: Würde ich auch sagen. In 15 Jahren haben sich alle langsam an die neuen Zeiten gewöhnt. Dennoch muss es endlich politische Rahmenbedingungen geben, die vor allem in Deutschland Vergütungsmodelle schaffen, um aufgenommene Musik irgendwie auskömmlich zu machen. Live läuft so oder so.

MusikBlog: Auf dem Reeperbahn Festival ist die Zahl der Auftritte nun nochmals gestiegen. Kann das Festival immer weiter wachsen?

Alexander: Nein. Dieses Jahr sind es gut 350 Acts, also rund 40 mehr als 2013. Wir haben die Veranstaltung um einen Tag erweitert, der Mittwoch ist sozusagen erwachsen geworden, da wird die Zahl der Spielstätten um zehn erhöht, am Donnerstag auch um ein paar. Die Clubs an der Feldstraße sind hinzugekommen. Aber Freitag und Samstag bleiben konstant, denn wenn man die Atmosphäre hier so beibehalten will, kann man das nicht sinnvoll erweitern.

MusikBlog: Nach welchen Kriterien werden die Künstlerinnen und Künstler ausgewählt?

Alexander: Etwa 90 kommen über Partner, im Wesentlichen Musikexportbüros, die uns einen bunten Strauß anbieten sollen, der zu uns passt. Knappe 300 buchen wir selbst. Es geht darum: sind die erfolgreich in ihrem Heimatland? Welche Aktivitäten stehen an? Gibt es Touren, Veröffentlichungen? Und musikalisch müssen die in den Zeitgeist passen, der nach dem Folk-Hype der vergangenen Jahre wieder zusehends elektronisch wird. Das reicht bis in die Klassik hinein. Unser Anspruch ist, dass wir vor allem ausländische Künstler hierzulande als erste zeigen wollen. Das klappt nicht immer, aber danach suchen wir.

MusikBlog: Was in der Vergangenheit zu großen Reeperbahn-Entdeckungen wie Bon Iver oder Jake Bugg geführt hat.

Alexander: Oder Ed Sheeran, ganz genau. Das ist immer die Hoffnung, so was steht jedem Festival gut. Und jetzt fragst du mich sicher, wer das dieses Jahr sein wird.

MusikBlog: Wer wird das dieses Jahr sein?

Alexander: Da dachten wir zuerst, der irische Songwriter Hozier. Aber die Single ist raus, die Platte kommt nächste Woche, da kriege ich jetzt keine besonders guten Quoten mehr, wenn ich auf den als neues Ding setze. Trotz der Suche nach den Stars von morgen, ist das Festival in der Breite zu gut aufgestellt, um nur auf einzelne Künstler zu schauen.

MusikBlog: Wie kriegt man diese Breite als Veranstalter organisiert – über’s Prinzip Selbstausbeutung oder verdient ihr mit dem Festival richtig Geld?

Alexander: Na ja, richtig – wir arbeiten kostendeckend, also vor allem für’s Personal. Über’s Jahr gesehen kümmern sich 14 Hauptamtliche um das Festival, was ab Mai zügig anschwillt. Und die wollen alle bezahlt werden, das ist schon ein Riesenposten. Wenn wir dennoch mal ein bisschen drüber liegen wie im Vorjahr, fließen die Mehreinnahmen in Sachen wie den Website-Relaunch, der unglaublich teuer ist. Wir wachsen also, wenn auch sukzessive.

MusikBlog: Wachst ihr denn so, dass ihr euch bald auf Augenhöhe mit dem SXSW in Austin befindet, wie manche schon behaupten?

Alexander: Das ist Wunschdenken. Wir sind für nationale, auch europäische Verhältnisse gut aufgestellt. Aber das SXSW ist auch vom Spirit her eine so außergewöhnliche Veranstaltung, dass wir uns keinen Gefallen täten, uns an denen zu messen. Zumal auch in Austin viele nur noch davon sprechen, was sie verpasst, statt was sie gesehen haben. Vor amerikanischen Verhältnissen sollten wir uns besser hüten, wo immer alles gleich „really awsome“ ist. Wir sind da vielleicht ein bisschen biederer.

MusikBlog: Hanseatischer.

Alexander: Wahrscheinlich, ich bin ja aus Hamburg. Zumal jener Konferenzteil, der sich seit dem dritten Reeperbahn-Festival theoretisch mit der Musiklandschaft befasst, immer mehr ausgeweitet wurde. Wir haben 3.000 Fachbesucher vom Clubbetreiber über die großen Medien bis hin zum internationalen Label. Seither ist auch das Publikum fachkundiger geworden, es herrscht kein reines Konsumverhalten, sondern echte Musikleidenschaft. An der darf gern was verdient werden, indem die Label hier ihre Bands und Künstler promoten. Umso mehr müssen wir aber darauf achten, nicht übertrieben zu wachsen. Wir bräuchten zwar mehr Clubs mit bis zu 1.500 Zuschauern, aber eben keine weiteren Läden mit 50 Plätzen. Das verursacht nur Kosten, keine Kapazitäten. Insofern war es eine bewusste Entscheidung, das Wochenende nicht zu erweitern: gegen das Wachstum, für die Atmosphäre.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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