Im Juli vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg (wie wir später sehen werden, brach er nicht aus). Weil die Region Flandern in Belgien von dem Krieg besonders betroffen war, bat sie die Band Einstürzende Neubauten, sich dem Ersten Weltkrieg zu widmen. Herausgekommen ist dabei das Album “Lament“, das vor einer Woche veröffentlicht wurde und seitdem von den Neubauten in mehreren Live-Konzerten in Europa, der Türkei und Russland dargeboten wird. Gestern luden sie zur Aufführung nach München in die Muffathalle.

Pünktlich um 20:30 Uhr, so wie eigentlich bei jedem Neubauten-Konzert, beginnt es in der nicht ganz ausverkauften, aber doch gut gefüllten Muffathalle mit dem ersten Stück “Kriegsmaschinerie”. Alex Hacke und Rudolf Moser schleifen Stahlketten über eine riesige Blechwanne, um das typische, metallische Kreischen zu erzeugen.

Dazu zerrt Hacke an einer, ebenfalls aus Blech bestehenden, riesigen Tonne, dessen kippende Bewegung einen stampfenden Sound erzeugt. Blixa Bargeld, der übrigens barfuß auftrat, hält nacheinander, jedoch zu genau bestimmten Zeitpunkten, Text-Schilder hoch, dabei immer näher in Richtung Publikum an den Bühnenrand kommend. Das erste Schild zeigt “Der Krieg bricht nicht aus, war nie gefangen oder angekettet”.

Danach folgt “Hymnen”, dessen melodische Basis eine Nationalhymne ist, die damals gleichzeitig von mehreren Nationen wie Deutschland, England oder Kanada verwendet wurde. Die Sprache des Textes ändert sich alle zwei Zeilen, um die Multinationalität entsprechend auszudrücken.

“The Willy – Nicky Telegrams” gibt bekanntlich die Telegramme wieder zwischen den Cousins Kaiser Friedrich Wilhelm von Preußen, gesungen von Blixa, und Zar Nikolaus II., gesungen von Alexander Hacke. Wie Blixa Bargeld leicht augenzwinkernd erläutert, singen sie beide in dem Lied teilweise gleichzeitig, weil die Telegramme sich ja auf ihrem Weg überschnitten hatten.

Zu “In De Loopgraaf” (die Setlist folgt exakt dem Album) erklärt Blixa, dass die im Song verwendete Stacheldraht-Harfe auf Flämisch Prikkeldraad Harp heißt. Außerdem, dass sie nicht mit der Hand gezupft wird, sondern eher ein Stacheldraht-Waschbrett ist, das mit Hölzern gespielt wird. Das von N.U. Unruh hergestellte und bediente Instrument soll übrigens dem im Krieg erlangten Trauma gedenken. Den Titel singt Bargeld dann auf Flämisch.

Dann folgt “Der 1. Weltkrieg (Percussion Version)” zu dem Blixa vorher erläutert, dass jedes der 20 aufgebauten, grauen Plastikrohre des monumentalen Schlagwerks eine teilnehmende Nation repräsentiert “inklusive aller Kolonien und sonstiger dazugehörender Länder” sowie, dass es im 4/4 Takt gespielt wird mit 120 BPM und dass jeder Beat einen Tag des Krieges repräsentiert. Somit dauert bei 1.566 Kriegstagen der Titel 13 Minuten.

Die Einstürzende Neubauten haben den Song wohl auch mit 60 BPM ausprobiert, was jedoch viel zu lang war. Mit höherem Tempo wäre es jedoch unpassend geworden, also war 120 Beats pro Minute der richtige Kompromiss. Nach der entsprechenden Anzahl von Beats/Tagen verkündet Blixa den Namen der zu diesem jeweiligen Zeitpunkt eintretenden Nation.

Eine offenbar leicht verwirrte Zuschauerin fragt vor Beginn laut, ob denn auch Aschermittwoch mit enthalten wäre, worauf Blixa amüsiert/gereizt antwortet “Ja, natürlich, ich weiß zwar nicht, wann Aschermittwoch ist, aber der Krieg ging ja über vier Jahre. Und Weihnachten ist auch dabei, aber Sie müssen gut zählen können”. Und erklärt dann im Rheinischen Karnevalsdialekt, dass man hier aber nicht den Dreißigjährigen Krieg vertont hätte, sondern nur den Ersten Weltkrieg, aber der war ja auch schon ganz schön lang.

Das wohl emotionalste Stück, wenn man überhaupt eine solche Auswahl treffen möchte, ist Lament in den drei Akten “Lament”, “Abwärtsspirale” und “Pater Peccavi”. Die Bühne erleuchtet abwechselnd in behördlich-administrativem Gelb und schleppend-stillem Blau. Der Übergang zwischen den Songabschnitten wird getragen von den ernsten Violinen unter Anführung von Alexandra Paladi.

Der erste Song, der – wenn man so will – Zugabe, die ja bereits vorher feststand, ist dann Marlene Dietrichs “Sag Mir Wo Die Blumen Sind” (was im Original eigentlich von Pete Seeger stammt), den Blixa in einem weißen Papier/Krepp-Kostüm, kreiert von Astrid Noventa, singt.

Nach “Let’s Do It A Dada” vom letzten Album “Alles wieder offen” aus 2007, neben dem letzten Titel “Ich Gehe Jetzt” der einzige, der nicht von dem Album “Lament” stammt, präsentiert Blixa Bargeld dann noch sehr laut und eindrucksvoll “Der Beginn des Weltkrieges 1914 (dargestellt unter Zuhilfenahme eines Tierstimmenimitators)” von dem Kabarettisten Joseph Plaut aus dem Jahre 1926, das bereits den 2. Weltkrieg vorher ahnt.

Dieses Stück hat Bargeld durch Zufall in all den Aufnahmen entdeckt, die ihm auf Anfrage nach Klangmaterial aus dem 1. Weltkrieg zugeschickt worden waren. Zur Zeit des Ersten Weltkrieges gab es übrigens keinerlei Sound, die entsprechende Technik hat sich erst danach verbreitet und viele angebliche Aufnahmen aus dem Krieg wurden erst hinterher produziert.

Auch für “Lament” zeigen die Neubauten, dass sie ihre Fähigkeit zum Erbauen neuartiger Instrumente nicht verloren haben. Auf der Bühne sind ständig hin- und abgeräumte, eindrucksvolle Bauten aus Blech zu sehen, neben dem erwähnten 20-Rohr-Percussion-Monstrum sowie der Stacheldraht-Harfe unter anderem auch Krücken, auf denen Hacke läuft und die mit Mikrofonen am Boden ein Schlaggeräusch beim Gehen erzeugen und sich danach auch als Saiteninstrument entpuppen.

In “Let’s Do It A Dada” verwendet Blixa eine auf eine Bohrmaschine aufgesetzte Schallplatte und schleift diese dann drehend an einem Plastik-Trinkbecher, den er ans Mikrofon hält.

Owohl sie nicht gerade dafür bekannt sind, zeigen die Neubauten bei der Darbietung auch subtilen Humor. So fragt Blixa den Roadie mit gespielter Entrüstung, als dieser die Klangstäbe aufbaut und dabei ein Ton zu hören ist, “Spielst du jetzt auch schon?”, worauf dieser eifrig entgegnet “Das war er”, auf N.U. Unruh zeigend.

Dieser verschwindet während “Let’s Do It A Dada” hinter der Bühne und kommt dann sekundengenau zu seinem Einsatz zurück, nun mit einer weißen, langen Lackmütze und einem eben solchen Umhang bekleidet. Vor Beginn des Stücks, als eine kleine Pause entsteht, sagt Alex Hacke “Also, ich bin soweit” worauf Blixa fragt “Du hast deine Kriegsvorbereitungen also abgeschlossen?”.

“Lament”, das auf Tonträger eher inhomogen und etwas sperrig wirkt, gewinnt erst durch die Livedarbietung seine wahre Bedeutung. Wie es Blixa Bargeld treffend beschreibt “Es wurde als Aufführung geschrieben, es wurde als Aufführung erdacht. Es ist ein Theaterstück.”. Ein sehr unübliches Neubauten-Konzert, das alle Erwartungen übertroffen hat und man in dieser Form wohl nie wieder sehen wird. Ich bin froh, dabei gewesen zu sein.

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