Um es mit Karl Bruckmeyers Einstieg seiner „The Story of Pop“ zu sagen: Als irgendwann im Mittelalter die Trommel im Bauch eines Schiffs den Weg von Afrika nach Europa fand, war sie im Grunde geboren, unsere heutige Pop-Musik. Rhythmus (also Beat), was das Europa der Melodien, der Saiten- und Blasinstrumente nicht kannte, kam aus Afrika und war schwarz, schwarz, pechschwarz. De facto hält dieser Kulturaustausch, dieser sex of cultures, bis heute an. Hip-Hop und elektronische Musik, die beiden rhythmuslastigsten Strömungen des Pop, werden immer relevanter, universeller und wichtiger und nehmen der melodielastigen zeitgenössischen Populärmusik ihre Vormachtstellung. Ich behaupte, einer der wichtigsten musikalischen Gründe des Heutzutage, warum diese Entwicklung spannend, toll und gut ist, ist nicht Kanye West, es ist Kendrick Lamar.
Die Gründe hierfür sind nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen. Nicht allein weil „good kid, m.A.A.d. city”, das vielschichtigste, facettenreichste und gleichzeitig unterhaltsamste Hip-Hop-Album der letzten Jahre, so fette, bouncy Beats hatte, ja, provided by Dre. Nicht allein, weil der bald 28-jährige Kendrick Lamar mit einer rappenden Idiomvielfalt auffährt, die seinesgleichen sucht. Ob im internationalen oder deutschen Hip-Hop, wer die markante Stimme hat, hat den Einmaligkeitsvorteil, Busta Rhymes oder Method Man dort, ein Eisfeld oder Flowin Immo hier. Nicht so bei Kendrick Lamar. Die Palette seiner Stimmlagen, seiner rapflows, ist singulär. Der Typ kann schizophren wirr klingen, oder bübisch, oder testosterongesteuert aggressiv, oder weinerlich feminin, oder mit geschmeidigem Bariton versehen; Millionen Hörer fragten sich auf „good kid, m.A.A.d. city”, welcher Gast-Rapper ist das denn jetzt schon wieder? Es war fast immer er selbst.
Nein, auch nicht allein, weil Kendrick Lamar Duckworth zu den Hip-Hop-Artists gehört, die nicht darüber rappen, dass sie den größten Schwanz, die dicksten Eier und die tollste crib haben, und Du als Frau nur eine Funktion hast, sexuell verfügbar sein, ist er in der Popwelt mit das Beste was wir überhaupt haben. Der Duckworth ist kein Battlerapper, er ist ein Storyteller. Und er erzählt gesellschaftlich relevantes. Auf „good kid, m.A.A.d. city” den Ulysses-artigen Einblick in einen einzigen Tag seines früheren Lebens; die Verführung der Straße: Compton, L.A. als Luzifers Spielplatz, dem der Sohn eines ehemaligen Gang Members widerstehen muss, will er mehr sein als ein weiterer krimineller Schwarzer und Schulabbrecher.
Jetzt, auf „To Pimp A Butterfly“, geht es nicht mehr um die Vergangenheit, hier ist die konkrete Gegenwart das Thema, Duckworth fragt sich permanent laut auf diesem Album, warum bin ich ein Idol, was macht mich zum Idol, und welche Verantwortung habe ich jetzt. Die Antwort hat Duckworth auf seinem zweiten Majoralbum und seinem dritten insgesamt gefunden und hat mit den derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen der USA zu tun. Ferguson. Trayvon Martin. #Ican’tBreathe. To „Pimp A Butterfly“ ist ein hochpolitisches Hip-Hop-Album. Durchaus in einer Tradition stehend mit den Genremarksteinen „It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back“ von Public Enemy oder „Straight Outta Compton“ von N.W.A. Was Kendrick Lamar auf „To Pimp A Butterfly“ schafft, ist zu unterhalten und gleichzeitig inhaltlich relevant zu sein.
Nein, keine der einzelnen genannten Alleinstellungsmerkmale machen Kendrick Lamar zu einem Hip-Hop-Gott und „To Pimp A Butterfly“ zu einem Meisterwerk. Es ist die Kombination aus allen Elementen, die Duckworth anders macht, neu macht, wichtig macht. „To Pimp A Butterfly“ ist im Gegensatz zu dem zugänglicheren „good kid, m.A.A.d. city” verworren und labyrinthartig, free-jazzig und kaum party-mäßig geil. Duckworth hat ganz offensichtlich in letzter Zeit viel mit Flying Lotus abgehangen, der auch mehrere Tracks produziert hat.
„To Pimp A Butterfly“ ist außerdem ein dermaßen deutliches Pamphlet, dass es genug ist, dass es reicht, im Jahre 2015 mit Alltagsrassismus und der kulturellen Dominanz des weißen Mannes, im Film, in der Musik, in der Chefetage, in der Polizeiuniform, dass man erschrickt, wie viel Ungerechtigkeit in unserer ach so freien, postmodernen westlichen Welt doch herrscht. Man weiß gar nicht, wo anzufangen bei dermaßen viel Komplexität und thematischer Verdichtung. „Dense“ ist gar kein Ausdruck für dieses Album. Es hat schon seinen Grund, warum die meisten Besprechungen zu diesem Album lang sind: es geht nicht anders.
Nur ganz kurz: Das unglaublich verdichtete, komplexe und virtuose „To Pimp A Butterfly” beginnt mit einem Sample des Boris Gardiner Soundtrack-Titelsongs des gleichnamigen Jamaikanischen Film-Flopps „Every Nigga Is A Star“ aus dem Jahre 1974 von Calvin Lockhart (eigentlich ein Schauspieler, der in seinem bekanntesten Film eine Rolle als „Biggie Smalls“ verkörperte, den Namen übernahm The Notorious B.I.G. als Alias) – wohl einer der ersten Songs überhaupt, in dem ein schwarzer Musiker die Bedeutung des abwertenden Begriffs „Nigga“ umzudrehen und das von Weißen als Beleidigung gebrauchte Schimpfwort wegzunehmen suchte. Und P-Funk-Erfinder und Funk-/Soul-Legende George Clinton fragt über einem Flying Lotus-Beat die Schlüsselfrage, die sich Duckworth auf diesem Album stellt: Warum bin ich ein Idol, was bedeutet es, ein Idol zu sein: „Gather your wind, take a deep look inside, are you really who they idolize? To pimp a butterfly.“
Yep. Genau da geht’s lang. Und es wird nur verdichteter, komplexer. Flying Lotus, George Clinton, ein Soul-Song, den keiner mehr kennt. Und eine ganz klare und unmissverständliche Botschaft: endgültig weg mit der kulturellen Hegemonie des weißen, heterosexuellen Mannes. Weg mit ausschließlich weißen Superhelden, weißen Batmans, weißen Jedi-Rittern, weißen Spidermans, weg mit der systematischen Unterrepräsentation einer Ethnie und ihrer Nachkommen, an denen horrende Menschheitsverbrechen begangen wurden, nicht nur in den USA, und das zum Teil bis in die Moderne. Weg mit „racial profiling“, weg mit Black-Music-Etiketten auf CD’s, weg mit Genre Bezeichnungen à la Female-Rock; weg mit den ganzen Benachteiligungen, die nur die Benachteiligten spüren.
Die Vereinigten Staaten stecken in dem schizophrenen Zustand, im 21. Jahrhundert unangefochtener Hegemon zu sein, erstmalig einen schwarzen Präsidenten zu haben, aber eine Gesellschaft zu sein, in der systematische polizeiliche Diskriminierung von Menschen, die nicht weiß sind an der Tagesordnung stehen. Und das soll Hip-Hop, eine der lautesten, wirkungsmächtigsten, reichweitesten Genres im Pop nicht zum Thema machen dürfen, weil es dann nicht mehr unterhält? Weil es dann plötzlich nicht mehr cool, sondern anstrengend ist? Kendrick Lamar beweist das Gegenteil. Es geht beides: Zu unterhalten und etwas sehr Wichtiges zu sagen. Und wie.