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Das Album ist meine Coming-Of-Age-Geschichte – Rae Morris im Interview

Wenn heute das Debütalbum „Unguarded“ von Rae Morris in Deutschland erscheint, dann ist dies ein willkommenes Gegenbeispiel zu der These, dass in Zeiten von Casting-Shows und kurzlebigen Hypes Musiker entdeckt, verwertet und schnell wieder vergessen werden. Denn die Sängerin aus Blackpool im Nordwesten von England wurde 2011 zwar bereits im zarten Alter von 18 Jahren unter Vertrag genommen, nachdem sie mit ihrer melancholischen Klaviermusik durch Pubs und Clubs tingelte. Dennoch gewährte Atlantic Records ihr vier Jahre Zeit, in denen sie mit einigen EPs an ihrem Stil und ihrem Sound arbeiten konnte und so mit „Unguarded“ ein ungewöhnlich reifes und aufwendig produziertes Debüt veröffentlicht. Wir sprachen mit Rae über ein prägendes Fernseherlebnis, ihr Album als Spiegel ihrer persönlichen Entwicklung sowie ihren Hang zum Perfektionismus.

MusikBlog: Der erste Kontakt mit deinem Instrument fand sehr früh statt, bereits mit vier Jahren erhieltest du zusammen mit deinem Bruder Klavierunterricht. Spielte auch sonst Musik eine größere Rolle in eurer Familie?

Rae Morris: Ja, Musik war etwas, das wir einfach ständig machten. Meine Eltern wollten unbedingt, dass wir diesen Musikunterricht bekommen. Aber sie taten das ohne Hintergedanken oder einen verbissenen Ehrgeiz, sondern einfach, weil sie dachten, dass es mir und meinem Bruder weiterhelfen würde.

MusikBlog: Der Gedanke, dass du selbst Musikerin werden könntest, kam dir dann aber erst, als du Karima Francis – eine Sängerin aus deiner Heimatstadt Blackpool – im Fernsehen bei Jools Holland gesehen hast. Was löste dieser Auftritt bei dir aus?

Rae Morris: Mir war vorher schlicht und einfach überhaupt nicht klar, dass man so etwas erreichen kann, wenn man aus einer kleinen Stadt im Nordwesten von England stammt. Jools Hollands Sendung ist ziemlich bekannt und beliebt und da stand plötzlich jemand aus Blackpool. Ich dachte nur: Wow, das ist unglaublich! Damit hatte ich keine Ausreden mehr. Wenn ich so etwas ebenfalls erreichen möchte, dann muss ich einfach hart genug dafür arbeiten.

MusikBlog: Du hast Karima dann ja später auch kennen gelernt und dankst ihr in deinem Booklet. Wurde sie zu einer Mentorin für dich?

Rae Morris: Ja, sie war jemand, mit der man Ideen austauschen kann oder bei der man sich Ratschläge holen kann. Und gleichzeitig hat sie einen ähnlichen Hintergrund, wir stammen aus der gleichen Stadt. Ihre Hilfe und ihre Freundschaft waren vor allem zu Beginn sehr wichtig für mich.

MusikBlog: Und gab es einen besonders wichtigen Ratschlag, den sie dir mit auf den Weg gegeben hat?

Rae Morris: Sie hat mir gezeigt, wie man Songs schreibt, davon verstand ich damals noch nicht viel. Aufbau, Struktur, Arrangements… Solche Dinge.

MusikBlog: War diese Unerfahrenheit auch ein Grund, warum du zwar bereits 2011 bei Atlantic Records unterschrieben hast, aber erst 2015 dein Debütalbum veröffentlichst?

Rae Morris: Ich kann nicht behaupten, dass es von Anfang an mein Plan war, mir vier Jahre Zeit zu nehmen. Aber ich wollte die Sache schon langsam angehen, weil ich noch viel lernen musste und Erfahrungen sammeln musste, um ein Album zu schreiben, das dann auch wirklich widerspiegelt, was ich ausdrücken möchte.

MusikBlog: Würdest du dich als Perfektionistin bezeichnen?

Rae Morris: Ich glaube, dass man das durchaus so sagen kann. Zum Glück sind die Leute von meinem Label und alle anderen, mit denen ich zusammen an diesem Album gearbeitet habe, ebenfalls Perfektionisten. Jeder wollte, dass „Unguarded“ das bestmögliche Album wird.

MusikBlog: Vermutlich war es dann eine große Erleichterung für dich, als „Unguarded“ endlich fertig war und von Kritikern und Hörern positiv aufgenommen wurde?

Rae Morris: Absolut! Es war aber nicht nur eine Erleichterung, sondern auch ein Grund zum Jubeln. Viel zu oft ist man einfach nur erleichtert, wenn man so etwas Großes vollendet hat, dabei sollte man den Moment genießen und auch mal richtig feiern.

MusikBlog: Vergleichst du manchmal die Songs deiner ersten EPs mit denen von „Unguarded“, um dir die Entwicklung deines Stils zu vergegenwärtigen?

Rae Morris: Das hab ich noch nicht getan, sollte es aber unbedingt mal machen, um diesen Prozess genau zu verfolgen. Meine ersten EPs waren sehr reduziert und auf Gesang und Klavier fokussiert. Seitdem habe ich mich immer mit der Frage beschäftigt, wie ich meinen Sound weiterentwickeln und neue Elemente integrieren kann.

MusikBlog: Als du bei Atlantic unterschrieben hast, warst du 18 Jahre alt, „Unguarded“ hast du nun mit Anfang 20 veröffentlicht. Das ist bei den meisten Menschen der Lebensabschnitt, in dem sie wirklich erwachsen werden und herausfinden, wer sie sind und was sie tun möchten. Ist dein Debüt also dein Coming-Of-Age-Album?

Rae Morris: Man kann es so bezeichnen, denn ich schrieb die ersten Songs für „Unguarded“ mit 17 und den letzten mit 22. Das Album dokumentiert also wirklich die gesamte Phase dieser Entwicklung. Und das war tatsächlich ein sehr prägender Abschnitt, in dem ich viele Dinge zum ersten Mal in meinem Leben getan oder gefühlt habe. „Unguarded“ ist also definitiv eine Coming-Of-Age-Geschichte, eine emotionale Reise.

MusikBlog: Das bedeutet ja auch, dass deine Texte sehr persönlich sind. Hast du deshalb den Titel „Unguarded“ gewählt?

Rae Morris: Ja. „Unguarded“ ist ja gleichzeitig der Name eines Songs, den ich erst sehr spät geschrieben habe. Das Gerüst des Albums stand bereits, aber es gab noch einige leere Plätze, die es zu füllen galt. Ich hatte das Gefühl, dass ich noch nicht so richtig erklärt hatte, was ich eigentlich ausdrücken will. „Unguarded“ handelt von einer Zeit in der Zukunft, in der alles etwas einfacher ist.

MusikBlog: Deine ersten Songs basierten nur auf Gesang und Klavier, „Unguarded“ dagegen setzt zum Teil auf große Arrangements, aufwendige Produktionen und elektronische Sounds. Hat sich mit dieser Veränderung des Sounds auch dein Songwriting verändert oder entstehen die Stücke nach wie vor am Klavier?

Rae Morris: Ein wenig von beidem. Es kommt immer auf die Stimmung des Songs an. Da ich zurzeit auf Tour bin, schreibe ich viel am Computer mit Logic und einem MIDI-Keyboard. Diese Art des Schreibens funktioniert für mich mittlerweile auch gut. Der Song „Morne Fortuné“, den ich ganz am Ende für „Unguarded“ geschrieben habe, entstand zum Beispiel komplett am Computer und nicht am Klavier. Es hängt wirklich immer von meiner aktuellen Stimmung ab, wie ich arbeite.

MusikBlog: Also klingen Songs, die du am Klavier schreibst, anders als Songs, die du am Computer programmierst?

Rae Morris: Wenn du am Computer arbeitest, kannst du schon früh entscheiden, wie der Song im Endeffekt klingen soll. Du machst dir von Anfang an Gedanken über Arrangements und die Produktion. Am Klavier denkst du eher über Melodien und Akkorde nach und entwickelst erst das Grundgerüst des Songs.

MusikBlog: Dieser aufwändigere Sound führt auch dazu, dass du deine Songs live nicht mehr alleine, sondern mit einer Band aufführst. War das eine große Umstellung?

Rae Morris: Ja, es ist auf jeden Fall ein großer Unterschied. Ich liebe es, alleine zu spielen, aber das nimmt mich emotional auch immer sehr stark mit. Wenn ich mit der Band auftrete, kann ich besser entspannen und mich auch mal zurücklehnen und das Zusammenspiel der übrigen Musiker genießen. Es macht mich sehr glücklich, beispielsweise meinen Drummer zu beobachten.

MusikBlog: Benjamin Garrett von Fryars hat nicht nur deine ersten EPs produziert, sondern singt auf deinem neuen Album auch den Song „Cold“ mit dir. War er es, der dein Interesse an den elektronischen Sounds geweckt hat?

Rae Morris: Ja, war er. Wir arbeiteten zusammen an dem Song „Grow“, das war das erste Mal, dass ich gemeinsam mit jemandem geschrieben habe. Er zeigte mir, dass es vielfältige Möglichkeiten gibt, Emotionen durch Sounds auszudrücken. Er beeinflusste diese Kombination von elektronischen und analogen Klängen in meiner Musik.

MusikBlog: Ist diese elektronische Seite deines Sounds eventuell etwas, das du mit deinen nächsten Songs noch weiter erkunden möchtest?

Rae Morris: Unbedingt, ich spüre den Drang, mit neuen Klängen und Elementen zu experimentieren, die ich bislang noch nicht verwendet habe. Aber das müssen nicht unbedingt elektronische Sounds sein, ich denke da auch an andere Kulturen, andere Genres. Einfach Dinge, die ich bislang noch nicht ausprobiert habe.

MusikBlog: Zum Beispiel?

Rae Morris: Vielleicht Jazz. Ich höre momentan viel Klaviermusik, zum Beispiel von Bill Evans. Die Technik solcher Pianisten und was sie mit diesem Instrument alles ausdrücken können – das fasziniert mich ungemein. Die haben ein komplettes Orchester unter ihren Fingern.

MusikBlog: Das klingt dann aber eher nach einer Rückkehr zu dem reduzierten Sound deiner frühen Stücke.

Rae Morris: Das ist der Kern meiner Musik. Das, womit alles angefangen hat. Und ich bemühe mich immer darum, zumindest in bestimmten Parts, diesen reduzierten Sound beizubehalten. Vielleicht nehme ich wirklich mal ein komplettes Album nur mit Stimme und Klavier auf.

MusikBlog: Ein Song, der auf „Unguarded“ ein wenig heraussticht, ist „Love Again“ mit seiner euphorischen Stimmung und dem House-artigen Piano-Pattern. Wie kam es dazu?

Rae Morris: Als ich das Album beendete, gab es noch eine Lücke, die ich damit schließen wollte. Es fehlte einfach noch ein positiver Song, der optimistisch in die Zukunft blickt. Im Text gibt es die Zeile „Looking to hard for something“ und genau das tat ich zu der Zeit. Ich habe so angestrengt nach diesem positiveren Song gesucht, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass er bereits direkt vor mir lag.

MusikBlog: Also soll der Song auch als Gegengewicht zu den eher melancholischen Momenten des Albums dienen?

Rae Morris: Viele Songs wie „Don’t Go“ sind sehr emotional und introvertiert. Diesen wollte ich ein tanzbares, schnelleres Stück entgegensetzen, das zugleich offener und extrovertierter ist und zu dem der Hörer schneller Zugang findet.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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