Da glaubt man, nach mehr als einem Dutzend erlebter Tocotronic Konzerte die zu erwartende Choreographie zu kennen und einen relativ routinierten Abend zu erleben. Falsch. So wie die ewig junge und wandelbare Band sich auf dem roten Album wieder neu erfunden hat, präsentierte sie sich am Donnerstag zum Tourauftakt im Leipziger Haus Auensee mit einem Programm aus aktuellem Material und mit Stücken, die man während der letzten Jahre von ihnen nicht live gehört hat.

Gut gefüllt war die Location, eine durchwachsene Altersstruktur vom Schüler bis zum, mit der Band in Ehre ergrauten, Ur-Fan war versammelt und harrte zunächst bei Bratwurst und Bier vor der Tür der Dinge, die da kommen sollten. Es kam zuerst der Support: die Musik von Sarah und Julian wurde wohlwollend registriert, erinnerte ein wenig an The xx ohne Bass und war nach einer knappen halben Stunde auch schon wieder vorbei. Es blieben dreißig Minuten für die weitere Getränkeversorgung, dann wurde es ernst.

Ein feierliches Intro und die Herren von Lowtzow, Müller, Zank und McPhail treten vor den zum Album passenden, roten Glitzervorhang. Eine kurze Verbeugung, die Gitarren übergeworfen und ab geht die Post. Mit „Prolog“ und „Ich Öffne Mich“ folgt das Konzert zu Beginn der aktuellen Platte und auch, wenn die Songs noch nicht unbedingt zum Pogo einladen, ist in den vorderen Reihen schon reichlich Bewegung. Dirk ist gut aufgelegt und berichtet augenzwinkernd von seiner Aufregung vor dem Tourneestart, Arne erhöht diesbezüglich sogar auf mehrere schlaflose Nächte.

Beim dritten Stück gibt’s den ersten Klassiker, nicht etwa „Freiburg“ wie Teile des Publikums seit dem ersten Akkord fordern, sondern „Du Bist Ganz Schön Bedient“, ein Song aus eine Zeit, in der laut dem Protagonisten am Mikro ihre „Gehirne etwas verdreht waren“.

Die Band beschleunigt, „Digital Ist Besser“ und „Aus Meiner Festung“ werden gespielt. Ihr Credo bezüglich aktueller politischer Debatten war schon auf die Eintrittskarten gedruckt, das Statement dazu gibt es dramaturgisch passend vor „Aber Hier Leben, Nein Danke“, ein Song in dem auch das Publikum zu vokaler Höchstform aufläuft.

Längst vergessen die eher maue Akustik in dem großen Saal, die Hits fallen wie reife Früchte von den Bäumen; nicht die erwarteten, sondern mit „Samstag ist Selbstmord“ und „Die Grenzen des Guten Geschmacks 1“ welche, die man schon länger nicht mehr beim Gig geboten bekommen hat.

Dazwischen drückt der nagelack-lackierte Dirk nicht nur bei „Die Erwachsenen“  mit großen Gesten die Dankbarkeit gegenüber dem selbstvergessen, feiernden Auditorium aus, dann schlagen die Jungs mit „Rebel Boy“ und „Zucker“ (laut Bandleader „das schwulste Lied von der schwulsten Platte“) den Bogen zu ihrer musikalischen Aktualität.

Die nächste Seltenheit folgt. Der Frontmann hat bei „Du Bist Immer Für Mich Da“ keine Gitarre in der Hand, nur das Mikrofon, mit der anderen wirft er Blumen in die Menge. Ganz großes Kino an diesem wunderbaren Abend!

Es zieht wieder an: „This Boy Is Tocotronic“ (erstaunlicherweise sind erst jetzt die ersten Crowdsurfer unterwegs), „Sag Alles Ab“ und „Mach es Nicht Selbst“ hämmern aus den Boxen. Danach geht es auf „Jungfernfahrt“, bevor mit „Drüben Auf Dem Hügel“, einem der prägendsten Songs aus der Frühphase,  der Hauptteil nach 75 Minuten etwas abrupt endet.

Nach der Pflicht die Kür: Die Zugabe folgt, beginnt nicht wie weiter vehement gefordert mit „Freiburg“, sondern mit dem raren „Neues Vom Trickser“, gefolgt von „Let There Be Rock“. Die Band spielt sich in einen Rausch, nach dem Song folgt die Vorstellung vom Gitarren-Gott Rick, dem stoischen Bass-Arbeiter Jan und dem Meister der Schießbude Arne, last but not least von ihrem Sänger und Texter.

Es nebelt auf der Bühne, „Explosionen“ erklingt und die beiden Neil Young Freunde an den Saiten toben sich noch einmal richtig aus.

Erneuter Abgang, Tocotronic kommen aber noch einmal raus und spielen nicht etwa „Freiburg“ sondern „Pure Vernunft darf Niemals Siegen“. Manch ein Fan bekommt da feuchten Glanz in die Augen, das Licht geht an und die meisten begeben sich in den Nieselregen der Nacht. So sicher wie 1:1 vorbei ist, waren, sind und bleiben Tocotronic eine berauschende Live-Band.

PS: In der Zu-Zu-Zugabe kam dann übrigens doch noch der herbeigesehnte und -gerufene Hit.

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