Rot ist nicht nur die Farbe der Liebe, sondern steht auch für Aggression und Zorn. Wenn Tocotronic eine Platte veröffentlichen, die vordergründig die Liebe behandelt, könnte diese eventuell für manchen Hörer zum roten Tuch werden, kündigt der von Kristof Schreuf im Auftrag der Band verfasste Pressetext doch mit diesem Album den Abschied vom Diskursrock an.
Dabei haben sich Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail schon längst aus dieser Schublade heraus gespielt und spätestens seit „Wie Wir Leben Wollen“ müsste klar sein, dass mit den Parolen Feierabend ist, vielmehr ihre Attitüde zum Lauf der Globalisierung und Sozialisierung die Hamburger zum feingeistigen Gegenpol der Gesellschaft machen.
War der Sound der Platten nach dem „weißen“ Album roh, kantig und unscharf, dazu auf „Wie Wir Leben Wollen“ von den Möglichkeiten der benutzten Retro-4-Kanal-Anlage bestimmt, geht es jetzt auf der mit Moses Schneider und Markus Ganter entstandenen Produktion klar bis opulent zu und schlägt damit musikalisch einen Bogen zum 2001er Werk. Der Bass tackert wave-lastig durch halbhohe Synthie-Wogen, die Gitarristen haben ihre Soli noch mehr eingebremst, Streicher schwirren durch die Luft, eine Kalimba (ein afrikanisches Daumenklavier) kommt zum Einsatz, ein Chor setzt ein und das souveräne Schlagzeug treibt die Stücke an.
Indem er sich in „Prolog“ an einem Nordseestrand stehend sieht, bedeutet das Stück für Dirk von Lowtzow ein Bindeglied zwischen dem Outro „Unter dem Sand“ vom Vorgänger und dem Einstieg ins Rot. Er ruft darin zum Aufbruch aus der Langeweile des Heimathafens auf, treibt hinein ins Unbekannte. „Ich Öffne Mich“ heißt folgerichtig das nächste Stück: Der Sänger beobachtet, analysiert stellt in Frage und entwickelt für das wohl strapazierteste Thema der Pop-Geschichte Lyrics, die allen anderen neuen Deutsch-Poeten nicht im Schlaf einfallen würden und dabei nie peinlich klingen.
Im Verlauf der Songs wird die Liebesthematik ausgedehnt und in gesellschaftliche Kontexte gesetzt („Solidarität“) oder der Interpret wird durch den simplen Wunsch nach unverfälschten Glück („Ich will keine Punkte sammeln/gib mir nur ein neues Leben/ich will keine Treueherzen/kannst du mir Liebe geben“) zum „Rebel Boy“.
Missverstandene Reformpädagogik Erziehungsberechtigter („Die Erwachsenen“) fehlen beim Eintauchen in die Erinnerung auf der Platte ebenso wenig wie die Sicht auf die unangenehmen Folgen des vorübergehenden Zusammenbruchs der Eigenorganisation nach dem Einnisten von Schmetterlinge im Bauch („Chaos“), wobei Unordnung hier produktives Neugestalten meint. Das durch Gefühle taumelnde „Spiralen“ wird von einer watteweichen Melodie getragen, während sich „Zucker“ wie ein ausgelassener Rummelplatz-Besuch verliebter Teenager anhört, „Haft“ eine beinahe Cure-artige Stimmung verbreitet und die vordergründige Leichtigkeit von „Sie Irren“ in der Tiefe der Erkenntnis mündet, dass sich jeder irrt, der meint, die Welt vom Müll befreien zu müssen.
„Jungfernfahrt“ gegen Ende der Platte dürfte dann auch alle versöhnlich stimmen, die sich nicht gänzlich mit dem musikalischen Wandel der Band anfreunden können, klingt das Stück doch der Musik der letzten Jahre am nächsten. „Diese Nacht“ am Schluss macht klar, dass Intimes gesungen auch unverkrampft klingen kann und – wenn Dirk im Hidden-Track sich selber datet -, dass auch die Selbstzweifel kein Zeichen von Schwäche sind.
Die ergrauten, weisen Nicht-Erwachsenen haben auf dieser mutigen Platte eine Sicht auf Liebe geschaffen, die ohne Besserwisserei auskommt und eine neue Periode ihres Schaffens eingeläutet hat. Denn wie sagt es Dirk gern mit geballter Faust am Ende eines Konzertes: „Wir waren, sind und bleiben Tocotronic“. Unverkennbar.