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Wir kommen diesem Zustand oft gefährlich nahe – Tortoise im Interview

Als Tortoise 1994 ihr selbstbetiteltes Debütalbum veröffentlichten, dominierte Grunge noch die US-amerikanische Rocklandschaft. Mit „Tortoise“ und dem Nachfolger „Millions Now Living Will Never Die“ stieß die Band aus Chicago die Tür zu angrenzenden Genres wie Jazz, Krautrock, Dub oder Ambient weit auf und erarbeitete sich über die Jahrzehnte den Ruf als Institution im Bereich der instrumentalen, experimentellen Rockmusik. Seit dem letzten Album „Beacons Of Ancestorship“ aus dem Jahr 2009 war es allerdings etwas ruhiger um das fünfköpfige Kollektiv der Multiinstrumentalisten Dan Bitney, Doug McCombs, Jeff Parker, John Herndon und John McEntire geworden. Erst eine Auftragsarbeit für die Stadt Chicago, mit der die lokale Jazz-Szene geehrt wurde, markierte den Beginn eines langwierigen Schreibprozesses für das siebte Album „The Catastrophist“. Wir sprachen mit Dan Bitney über diese vierjährige Entstehungsgeschichte des Albums, die Vorteile und Schwächen einer basisdemokratischen Arbeitsteilung und über Gesang als neues Element im Tortoise-Kosmos.

MusikBlog: Euer neues Album „The Catastrophist“ basiert auf fünf Kompositionen, die ihr 2010 im Auftrag der Stadt Chicago mit anderen Jazzmusikern aufgeführt habt. Wann habt ihr begonnen, diese für euer Album zu überarbeiten?

Dan Bitney: Das war so ein langer Prozess, dass ich mich gar nicht mehr genau daran erinnern kann, wann wir damit angefangen haben. Es war aber ein guter Trick, um den Druck aus dem Schreibprozess zu nehmen – wir haben ja zunächst gar nicht für unser Album komponiert. Als wir dann mit der eigentlichen Arbeit am Album begannen, war ich ehrlich gesagt überrascht, dass wir dieses Material benutzten. Diese Stücke sind heute auch kaum noch wiederzuerkennen, sie haben sich im Studio extrem verändert. Um aber deine Frage zu beantworten: Zwischen „Beacons Of Ancestorship“ und „The Catastrophist“ liegen sieben Jahre und in den letzten vier davon haben wir in unregelmäßigen Zeitabständen an dem Material gearbeitet.

MusikBlog: Ursprünglich hatten diese Kompositionen ja eine sehr freie Form, die Raum für Improvisation und die Soli anderer Musiker gab. Auf dem Album klingen sie nun aber sehr strukturiert und komprimiert. War das die größte Herausforderung?

Dan Bitney: Absolut. Das waren ursprünglich ausschweifende Stücke und nicht die recht prägnanten Songs, die man nun auf „The Catastrophist“ hört und die für unsere Verhältnisse sogar recht kurz sind. Die Stücke für das Konzert in Chicago beruhten auf einer einfachen Kompositionsweise aus dem Jazz – man spielt zunächst ein Head Arrangement, dann folgen die Soli und am Ende erklingt noch einmal das Head Arrangement. Das hat natürlich recht wenig damit zu tun, wie die Songs nun klingen. Außerdem haben wir uns oft lange mit Details beschäftigt, wie zum Beispiel dem Schlagzeugrhythmus des Titelsongs. „The Catastrophist“ hat nämlich einerseits so ein Halftime-Feeling, andererseits hatten wir auch diesen Motown-Groove für den Song. Die drei Schlagzeuger in unserer Band haben mehr als eine Woche damit verbracht, den richtigen Rhythmus zu finden, bis jemand endlich einen Mix beider Versionen gespielt hat, mit dem wir alle zufrieden waren.

MusikBlog: Wenn man so lange an dem musikalischen Material herumwerkelt, besteht dann nicht die Gefahr, dass man sich in den Ideen verliert oder zu viel über Details nachdenkt?

Dan Bitney: Wir kommen diesem Zustand mit unserer Arbeitsweise oft gefährlich nahe. Allerdings arbeiten wir meistens höchstens zwei bis drei Wochen am Stück und lassen dann die Ideen für einige Zeit ruhen. Aber die Gefahr, dass man sich als Musiker in den Details verliert, droht immer.

MusikBlog: Unterscheidet sich der Schreibprozess für „The Catastrophist“ grundlegend von der Herangehensweise bei euren anderen Alben?

Dan Bitney: Nein, das läuft immer sehr ähnlich ab. Die fünf Kompositionen haben uns lediglich einen guten Impuls gegeben, um mit der Arbeit anzufangen. Es gab natürlich einige Unterschiede, zum Beispiel haben wir unser altes Studio geschlossen und stattdessen in dem Gebäude aufgenommen, in dem John McEntire wohnt. Dort konnten wir nicht alle gleichzeitig aufnehmen, weil der Raum zu klein ist. Das Schlagzeug haben wir zum Teil in einem anderen Studio aufgenommen und dabei sind dann kleinere Unfälle passiert, die in unserem alten Studio so nicht aufgetreten wären. So hat sich das Mikrofon bei einer Aufnahme aus dem Ständer gelöst und lag dann während der Aufnahme auf der Trommel. (lacht)

MusikBlog: Im Vergleich zum Vorgänger klingt „The Catastrophist“ weniger heavy und aggressiv. Hattet ihr diesen softeren Klang von Beginn an im Kopf oder haben sich die Songs einfach in diese Richtung entwickelt?

Dan Bitney: Das war keine bewusste Entscheidung. Auf dem letzten Album haben wir viel mit Verzerrung gearbeitet, dadurch klangen die Songs rauer. Über „The Catastrophist“ haben schon mehrere Leute zu mir gesagt, dass einige Stücke an Softrock erinnern. Ich würde dieser These zwar widersprechen, aber womöglich hängt diese Einschätzung mit dem saubereren Sound zusammen.

MusikBlog: Obwohl das Album weniger aggressiv und heavy klingt, endet es sehr düster. Die zweite Hälfte des letzten Songs „At Odds With Logic“ klingt ja beinahe nach Doom Metal.

Dan Bitney: Der Song war Teil der Auftragskomposition, erhielt aber erst im Studio diese düstere Komponente. Ursprünglich wurde dieser zweite Teil von einer Flöte und zwei Saxophonen gespielt. Das hatte mit Metal natürlich nichts zu tun! (lacht) Das Stück stammt von mir, aber selbst ich war zunächst total überrascht, wie der Song nun auf dem Album klingt.

MusikBlog: Habt ihr denn normalerweise eine klare Vorstellung davon, wie ein bestimmter Song oder ein ganzes Album am Ende klingen werden?

Dan Bitney: Nein, wir nutzen das Studio als Experimentierlabor. Erst wenn wir an allen Songs arbeiten, erschließt sich uns irgendwann, in welche Richtung sich das Material entwickeln wird. Wenn wir ein Album aufnehmen, landet auch meistens das gesamte Material, an dem wir gearbeitet haben, auf dem Album. Es läuft also nicht so wie bei anderen Bands, dass wir noch fünf weitere Ideen hatten, die es aber nicht auf das Album geschafft haben. Wenn ich Songs für Tortoise schreibe, hoffe ich immer darauf, dass jemand anderes dem Song eine Wendung gibt, mit der ich selbst nicht gerechnet habe. Ich bin also offen dafür, dass meine Songs verändert werden und eine andere Richtung einschlagen – zumindest, wenn ich mit den Änderungen dann auch zufrieden bin. [lacht]

MusikBlog: Das klingt nach einem sehr demokratischen Schreibprozess ohne klare Hierarchien. Hat euch dieser Ansatz dabei geholfen, für rund 25 Jahre zusammen Musik zu machen?

Dan Bitney: Das ist sicher einer der Hauptgründe für unsere Beständigkeit. Außerdem macht es die Band so spannend und unvorhersehbar. Man kann uns nicht so leicht kategorisieren. Man kann zwar sagen, wir spielen „Experimental Rock“, aber das kann ja eigentlich alles bedeuten. Allerdings hat dieser demokratische Prozess auch Nachteile, weil Entscheidungen dadurch schwieriger und langwieriger sind, als wenn ein Bandleader entscheidet. Wir funktionieren als Kollektiv, in dem jeder Songs schreibt, jeder mehrere Instrumente spielt und daher keiner eine fest zugeordnete Rolle hat. Das führt manchmal zu der seltsamen Situation, dass wir nach der Veröffentlichung eines Albums überhaupt nicht wissen, wie wir einen Song aufführen sollen, weil irgendjemand im Studio drei oder vier Instrumente eingespielt hat.

MusikBlog: Ihr habt sieben Jahre gebraucht, um den Nachfolger zu „Beacons of Ancestorship“ aufzunehmen. In der gleichen Zeitspanne habt ihr in den 90ern vier Alben aufgenommen. Fällt es euch schwerer, neue Musik aufzunehmen, weil ihr euch nicht wiederholen wollt?

Dan Bitney: Es passiert mir heute häufig, dass ich eine Bassfigur einspiele, sie mir anhöre und dabei merke, dass ich exakt diese Figur schon einmal in einem anderen Song verwendet habe. Und genau so passiert es uns auch als Band immer wieder, dass wir Songideen verwerfen oder verändern müssen, weil wir bereits einen ähnlichen Song aufgenommen haben. Ich glaube nicht, dass sich andere Bands in ähnlicher Weise um diese Wiederholungen sorgen müssen. Wobei es dabei eher um unsere eigenen Ansprüche geht und weniger darum, was Fans oder Kritiker über solche Ähnlichkeiten sagen würden. Wir setzen uns selbst unter Druck, dass jedes Album einen Schritt nach vorne darstellen muss.

MusikBlog: Auf „The Catastrophist“ habt ihr nun zum ersten Mal auch zwei Sänger auf einem Tortoise-Album. Entstand diese Idee aus dem Kollabo-Album „The Brave And The Bold“ heraus, das ihr 2006 mit Bonnie „Prince“ Billy aufgenommen habt?

Dan Bitney: Wir dachten lange, dass Gesang für uns als Band nicht funktionieren würde. Das Album mit Bonnie „Prince“ Billy hat uns aber bewiesen, dass wir diese Rolle als Band, die einen Sänger begleitet, durchaus einnehmen können. Und kurz hatten wir sogar die Idee, dass „The Catastrophist“ ein Album wie „The Brave And The Bold“ werden könnte, nur eben mit vielen verschiedenen Sängern. Im Laufe der Zeit hat sich dann herausgestellt, dass die meistens Songs auch ohne Gesang auskommen, aber dass die zwei Songs „Rock On“ und „Yonder Blue“ mit Gesang sehr gut funktionieren.

MusikBlog: Zunächst war ich sehr überrascht, dass ihr einen internationalen Hit wie „Rock On“ von David Essex covert. Aber als ich mir dann das Original noch einmal angehört habe, fiel mir auf, dass das ein sehr ungewöhnlicher und schräger Song ist – gerade für einen so erfolgreichen Hit.

Dan Bitney: Absolut. Für mich verkörpert der Song auch eine Zeit in den 70er und 80er Jahren, in der es häufiger sehr ungewöhnliche Songs in die Rotation großer Radiosender geschafft haben. Man kann hören, dass da ein Produzent im Studio eine ungewöhnliche Vision hatte und die in diesem Song umgesetzt hat. Das ist etwas, mit dem wir uns identifizieren können. Außerdem gefällt uns, dass auf der lyrischen Ebene eine sehr direkte Message erklingt, die sich aber in der Musik überhaupt nicht widerspiegelt. Bei „Rock On“ erwartet man große, laute Gitarren, stattdessen ist der Song sehr minimalistisch.

MusikBlog: Bei dem zweiten Song mit Gesang passt die Musik dagegen recht gut zu den sentimentalen Lyrics.

Dan Bitney: Im Song „Yonder Blue“ treffen zwei Kompositionen aufeinander. Jeff Parker hat den Anfang und das Ende geschrieben, ich dagegen den Mittelteil mit den Pizzicato-Streichern.

MusikBlog: Wusstet ihr schon beim Komponieren, dass der Song später Gesang haben würde?

Dan Bitney: Nein, wir haben auch eine Version komplett ohne Gesang produziert. Bei unserer Release-Show in Chicago hat Sally Timms von den Mekons den Gesang übernommen, in Milwaukee haben wir es dagegen als Instrumentalversion gespielt.

MusikBlog: Und habt ihr auch einmal versucht, „Rock On“ als Instrumentalsong zu spielen?

Dan Bitney: Nein, haben wir nicht. Das wäre aber eine witzige Idee, weil der Song so offensichtlich auf den Gesang fokussiert ist. Sollten wir das in Zukunft mal versuchen, werde ich dich in den Writer Credits erwähnen. (lacht)

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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