2016 war wohl mit Abstand die schwerste Zeit für Amber Run: Nachdem Schlagzeuger und enger Freund Felix ausgestiegen war, stürzte die Band in einen tiefen Abgrund. In ihrem zweiten Album „For A Moment I Was Lost“ verarbeiten die vier Briten ihren Frust, Schmerz und Ärger. Wir sprachen mit Sänger Joe Keog darüber, wie weit er mit Fans gehen würde, weshalb Felix die Band wirklich verließ und welche persönlichen Geschichten sich hinter den bisher veröffentlichten Singles verbergen.
MusikBlog: Heute ist euer erstes Konzert auf dieser Tour und du wirkst so unglaublich ruhig.
Joe Keog: Ich war ruhig, bis ihr mich eben darauf gebracht habt! Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich noch ruhig bin… (lacht)
MusikBlog: Dann schnell Themawechsel: Auf Facebook sieht man, wie viel ihr mit den Fans interagiert. Ist euch das sehr wichtig?
Joe Keog: Sehr, sehr wichtig sogar. Meiner Meinung nach gibt es so etwas wie ein Abkommen zwischen Band und Fans. Ohne die einen könnten die anderen nicht existieren. Wenn wir keine Leute hätten, die sich unsere Musik anhören, für wen sollten wir sie dann produzieren? Auf der anderen Seite, wie sollen sich diese Leute von uns inspirieren lassen, wenn wir sie nicht an uns ran lassen?
MusikBlog: Eine Tour ist eine ziemlich gute Möglichkeit, Fans näher zu kommen.
Joe Keog: Auf jeden Fall. Wir sind immerhin im selben Raum!
MusikBlog: Gibt es trotzdem eine bestimmte Grenze für dich, bei der du sagst bis hierhin und nicht weiter?
Joe Keog: Natürlich würde ich Fans nicht zu einem Sonntagsdinner bei meiner Familie dazu schalten, aber eine konkrete Grenze gibt es nicht…wobei, bei Sucht hört es dann auf. Wenn eine Person besessen von deiner Musik ist, dann ist das nicht gesund. Eine zwischenmenschliche Beziehung muss aber gesund sein, sonst geschehen schlimme Dinge.
MusikBlog: Versuchst du auch manchmal Ratschläge diesbezüglich zu geben?
Joe Keog: Wir versuchen, durch unsere Musik zu sprechen und den Fans nahe zu sein. Aber ich kann ihnen zum Beispiel nicht raten, wie sie sich im Alltag verhalten sollen.
MusikBlog: Apropos Alltag: Von euch als Rockband erwartet man doch die ganz dreckigen Geschichten aus einem wilden Leben. Sind deine Erfahrungen so, wie du es dir anfangs vorgestellt hast?
Joe Keog: Meine Vorstellungen waren natürlich „Sex, Drugs and Rock ‘n‘ Roll“, aber es ist nicht ganz so einfach. (lacht) Wenn du nicht wirklich hart dafür arbeitest, dann schaffst du es nicht. Wie oft sind wir schon 300 Meilen zu Auftritten gefahren und direkt danach wieder zurück, weil wir uns das Hotelzimmer nicht leisten konnten.
MusikBlog: Also absolut nichts von deinen ursprünglichen Vorstellungen?
Joe Keog: Also wir trinken schon, so ist es nicht! Und natürlich stellst du das ein oder andere an und hast eine gute Zeit. Es gibt aber keinen Platz mehr für das Rock ‘n‘ Roll-Leben, wie man es von früher gewohnt ist, die Zeiten haben sich geändert. Aber wenn wir keinen Spaß hätten, dann würden wir eindeutig etwas falsch machen!
MusikBlog: Das ist wohl wahr…
Joe Keog: Ich wünschte natürlich es gäbe das Rockerleben noch! (lacht)
MusikBlog: Euer Album wird diesmal ohne Felix sein. Würdest du sagen, dass eure Musik seit seinem Ausstieg eine neue Richtung einschlägt?
Joe Keog: Ich glaube eher, dass wir eine neue Richtung eingeschlagen haben, als er noch in der Band war. Es war so ein trauriger Moment, als er sich dazu entschied, zu gehen. Aber er war mit so vielem unglücklich – unter anderem mit der Musik, die wir machen wollten.
MusikBlog: Die Musik, die ihr jetzt macht?
Joe Keog: Ja, genau. Die Musik, die wir jetzt machen, ist genau das, was wir alle machen wollen. Und aus diesem Grund ist es das Beste, was wir je zustande gebracht haben. Wir haben für uns entdeckt, was Amber Run wirklich bedeutet. Nur, wenn du wirklich weißt, wer du bist, kannst du es zu Papier bringen und es auf eine Platte spielen.
MusikBlog: Würdest du dann sagen, dass die Band den Ausstieg komplett überwunden hat?
Joe Keog: Ja, ich würde es fast so nennen. Es war verdammt hart, als er ging. Wir sind bis dahin vier Jahre lang durch dick und dünn gegangen. Natürlich gab es keine Schlammschlacht nach dem Motto „Ich lösche deine Nummer“, aber es war eine wirklich schwierige Zeit. Wir wünschen ihm nur das Beste für die Zukunft, aber hätte Amber Run auf Felix gewartet, wären wir wahrscheinlich nicht weit gekommen.
MusikBlog: In eurer ersten Singleauskopplung „Stranger“ geht es darum, hoffnungsvoll zu sein, auch wenn man nicht immer das bekommt, was man will. Wie wichtig findest du diese Einsicht?
Joe Keog: Es ist unglaublich wichtig einzusehen, dass man nicht immer das bekommen kann, was man braucht, was einem zusteht oder was fair wäre. Das Leben geht weiter. Du musst weiter machen, egal was auf dich zukommt.
MusikBlog: Egal wie hart das Leben gerade ist…
Joe Keog: Richtig! Die Welt kann manchmal ein so verdammt grausamer Ort sein. Schaut euch doch mal an, was alles passiert, das ist alles so furchtbar. Aber immer zu wissen, dass eine Chance irgendwo lauert, egal auf welchem Weg oder in welcher Form, ist so erleichternd. Aus diesem Grund haben wir „Stranger“ als erste Veröffentlichung gewählt, obwohl der Song vielleicht nicht ganz so kommerziell ist. Vor sechs Monaten haben wir nämlich gehasst, was wir taten. Jetzt schreiben wir, nehmen auf und gehen auf Tour.
MusikBlog: „Haze“ ist dahingegen eine melancholische a cappella Version.
Joe Keog: Oh, jetzt muss ich euch schon sehr nahe an mich ranlassen. Das ist ziemlich persönlich.
MusikBlog: Warum?
Joe Keog: Es geht hier um meinen kleinen Bruder und mich, als wir unter Depressionen litten. Dieser Song handelt davon, was wir zu der Zeit gefühlt haben. Ich finde, wenn du eine Message rüberbringen möchtest, musst du den Leuten die Möglichkeit nehmen, sich von Schlagzeug oder Gitarre ablenken zu lassen. Gib ihnen einfach keine andere Option, als deiner Stimme zuzuhören. Daher a cappella.
MusikBlog: Wie wichtig ist es denn für euch, Texte so autobiografisch zu halten?
Joe Keog: Für uns ist es extrem wichtig. Amber Run ist eine Band, mit der Leute sich identifizieren können. Ehrlich und aufrichtig bleiben ist unsere Art und Weise, mit allem klarzukommen. Andere Menschen gehen Laufen, trinken Alkohol oder machen was auch immer. Wir schreiben.
MusikBlog: „No Answer“ ist genauso persönlich: „I know you, but I don’t want to“?
Joe Keog: Die Leute, die gemeint sind, wissen das. Ich glaube, es war der netteste Weg, einen Song zu schreiben, der sagt „Verschwinde aus meinem Leben, ich möchte dich hier nicht mehr haben“. Das war unsere Absicht. Wir wollten genau diese Personen erreichen.
MusikBlog: Gibt es eine Musterlösung, mit solchen Situationen umzugehen?
Joe Keog: Ich glaube kaum. Man muss situationsbedingt handeln und einfach damit abschließen, wenn es notwendig ist. Es ist auf jeden Fall möglich und kann manchmal leider auch sehr blutig enden. Keiner zeigt gerne einer Person, dass sie unwillkommen ist. Aber es ist besser für beide, bevor einer wirklich verletzt wird.
MusikBlog: Hat es die Musik damit wieder zurück in dein Leben geschafft?
Joe Keog: Definitiv! Vor acht Monaten war ich so verbissen, richtig neidisch und viel zu wütend. Ich konnte nicht einmal die Musik von anderen Künstlern hören. Aber jetzt kann ich sagen, dass ich die Musik noch nie so genossen habe. Amber Run ist neu auferstanden und hat nach so vielen Schwierigkeiten endlich neue Lebenskraft geschöpft. Ich liebe die Musik zehnmal mehr als je zuvor!
MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.