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Ich habe mich Prog-Rock nie zugehörig gefühlt – Steven Wilson im Interview

Als Steven Wilson jüngst mit „Permananting“, einem Vorab-Track seines neuen Studioalbums “To The Bone” vor die Tür trat, ging ein Aufschrei des Entsetzens durch die Prog-Gemeinde. Am heutigen Tag der Veröffentlichung des Gesamtwerks haben sich die Gemüter immer noch nicht beruhigt. Ganz im Gegenteil.

Dank des Internets schallt ein Großteil von “To The Bone” bereits seit Tagen durch die Boxen unzähliger Fan-Haushalte. Steven Wilson hat es doch tatsächlich getan. Der schlaksige Tausendsassa mit der Lizenz zum Betören hat ein Pop-Album aufgenommen.

Aber muss man ihn deswegen gleich vom Hof jagen? Nein, natürlich nicht. Man sollte ihn wohl eher auf Händen tragen. Warum? Ganz einfach: “To The Bone” tischt nämlich so ziemlich alles auf, was dem Pop-Genre in den vergangenen Jahren fehlte. Melancholie, Hooks, Melodien und lyrischer Tiefgang:

Wilsons neues Meisterwerk packt das Chaos im Hier und Jetzt bei den Lenden und hüllt es ein in musikalische Perfektion. Sollen all die Prog-Eingefleischten doch zetern und jammern. Steven Wilson hat für ein derartiges Gehabe nur ein müdes Lächeln übrig. Wir trafen das britische Sound-Genie in Berlin zum Interview und sprachen über jammernde Nerds, musikalische Herausforderungen und dumme Menschen.

MusikBlog: Steven, die Prog-Welt jammert. Kannst du die Community verstehen?

Steven Wilson: (lacht) Nicht wirklich. Ich habe mich dieser Gemeinschaft nie wirklich zugehörig gefühlt.

MusikBlog: Du würdest dich also nicht als Prog-Rock-Ikone bezeichnen?

Steven Wilson: Nein, sicherlich nicht. Mir ist natürlich bewusst, dass meine erfolgreichsten Veröffentlichungen eine gewisse musikalische Tendenz aufweisen. Aber ich selbst habe mich als Künstler nie in einer bestimmten Schublade gesehen. Wer sich eingehend mit meinem Backkatalog beschäftigt, der wird schnell merken, dass ich mich in vielen Branchen heimisch fühle. Singer/Songwriter, Rock, Metal, Ambient, Elektro, Noise: Ich tanze schon seit jeher auf verschiedenen Hochzeiten.

MusikBlog: Dieser Tage fügen wir auch noch Pop hinzu.

Steven Wilson: Ja, wobei ich auch schon in der Vergangenheit mit vielen Pop-Elementen gearbeitet habe. Diesmal bin ich einfach nur einen Schritt weiter gegangen.

MusikBlog: Schwer gefallen?

Steven Wilson: Es war eine besondere Herausforderung, keine Frage. Man mag es kaum glauben, aber ein Song wie “Permananting” schreibt man nicht in einer halben Stunde. (lacht)

MusikBlog: Hat dich das überrascht?

Steven Wilson: Mich nicht. Aber viele andere Leute. Das Problem ist, dass die Menschen oftmals an der Oberfläche hängenblieben. Einen klassischen Pop-Song begleitet man nur selten in die Tiefe. Versteh mich nicht falsch, ich kann das nachvollziehen. Man klebt an den Melodien fest, erfreut sich an den Hooks und fühlt sich für drei Minuten bestens unterhalten. Aber man kann dem offensichtlichen Glanz auch noch Tiefgang und eine Bedeutung zur Seite stellen.

In den Achtzigern hat das wunderbar geklappt. Da haben Bands und Künstler wie Depeche Mode, Talk Talk, David Bowie und Tears For Fears langlebige Pop-Songs nur so aus den Ärmeln geschüttet. Heutzutage sucht man solche Songs vergebens. Für mich war die Mixtur aus Pop und Kunst eine riesengroße Herausforderung. Aber ich bin zufrieden. “Permananting” gehört mittlerweile zu meinen Lieblingssongs.

MusikBlog: Neben der musikalischen Tiefe gehst du auf deinem neuen Album auch inhaltlich ans Eingemachte. Im finalen “Song Of Unborn” beispielsweise singst du aus der Sicht eines ungeborenen Kindes, das sich fragt, warum es in diese chaotische Welt hineingeboren soll. Was macht dir dieser Tage besonders Angst?

Steven Wilson: Die Dummheit vieler Menschen. Wenn ich mir vor Augen führe, was am Wochenende in Charlottesville passiert ist… Ich meine, haben die Menschen nichts gelernt? Dieser ganze rechte Rand, der sich überall auf der Welt wieder verstärkt in Richtung Mitte schiebt, kotzt mich einfach an. Ich verstehe diese Menschen einfach nicht. Ich verstehe nicht, wie man der Meinung sein kann, dass man mehr wert ist als andere, nur weil andere anders aussehen. Das will nicht in meinen Kopf hinein. Diese Entwicklung bereitet mir große Sorgen.

MusikBlog: Was macht dir Hoffnung?

Steven Wilson: Die Musik. Wir Künstler haben viel Macht. Uns folgen Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Denen müssen wir etwas mit auf den Weg geben. Ich rede jetzt nicht von politischen Parolen oder minutenlangen Reden. Was intensiviert werden muss, sind Fingerzeige innerhalb der Musik. Ich sehe diesbezüglich aber auch schon eine Veränderung. Jahrzehntelang ging es nur um Nebensächlichkeiten. Mittlerweile gehen auch Mainstream-Acts innerhalb ihrer Songs auf die Barrikaden. Das ist der richtige Weg.

MusikBlog: Zurück zu deiner Musik: Inwieweit markiert “To The Bone” den Beginn eines neuen musikalischen Kapitels?

Steven Wilson: Ehrlich?

MusikBlog: Bitte!

Steven Wilson: “To The Bone” reflektiert lediglich den Moment im Hier und Jetzt. Das Album ist kein Hinweisschild. Mir war es immer wichtig, mich mit jedem neuen Album ein Stück weit neu zu erfinden. Und so denke und fühle ich auch heute noch. Vielleicht habe ich beim nächsten Mal ganz andere Ziele vor Augen. Vielleicht mache ich noch eine Pop-Platte. Vielleicht geht’s auch wieder in die Metal-Richtung. Ich habe keine Ahnung. (lacht) Heute bin ich happy und zufrieden. Nur das zählt.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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