Das achte Studioalbum vom Meister des kontemporären Progrock, es bietet kaum Neuigkeiten und ist – womöglich nicht trotz, sondern gerade deshalb – mehr als nur solide. Schließlich gibt es bei Steven Wilson ein gewisses Niveau an Gütesiegeln. Darunter macht er es nicht.
„Objects Outlive Us“, der erste von nur zwei Tracks, er startet mit zwei Minuten Ambient-Säuseln, dann geht die Amplitude auf, das Ride-Becken steckt den Takt, das Piano den harmonischen Rahmen. Wilson singt im Chor (mit sich selbst) zum ersten Crescendo, das nach fünf Minuten wieder in sich zusammenfällt. Danach von vorne, mit neuem Schwung.
Schaut man sich die Tonspuren der beiden 20-minütigen Suiten an, gleichen sie einer Aneinanderreihung von in die Länge gezogenen Dreiecken. Eine Ansammlung von Steigerungen. Nach jeder Klimax geht es wieder zurück, um im Folgenden noch Luft nach oben zu haben.
Was die Geometrie seiner Songs betrifft, sind deren Abläufe folglich reißbrettartiger als Wilson lieb sein kann. Ein Umstand, mit dem er bei jenen Angriffsfläche bietet, die ihn als vermeintlichen Prog-Konservierer partout nicht ausstehen können.
In dieses Tableau fällt auch, dass sich die beiden Stücke durch die verschiedenen Spielarten der Progressivität arbeiten müssen, um der Wiederholung zu entkommen. Ambient, Akustik-Prog, Metal-Passagen, Art-Rock-Sphären. Alles in gleichschenklige Dreiecke gepackt.
Die Hater sprechen dann vom Klischee des Progrock, und als solches bieten beide Songs im Kosmos von Steven Wilsons Solo- als auch Bandprojekten, allen voran Porcupine Tree kaum Neuigkeiten.
Warum also sollte sich „The Overview“ lohnen? Zunächst, weil Wilson ein begnadeter Handwerker ist. Die Art und Weise seiner Harmonie- und Melodieführungen, die vollkommene Produktion, die Vielfältigkeit der Stile und nicht zuletzt, sein konzeptionelles Storytelling – das alles ist in einem Wort: edel.
Außerdem wählt er mit dem „Overview Effekt“, der den Blickwinkel von Astronauten auf die Erde beschriebt, ein so universelles wie aktuelles Thema. Bei Astronauten findet infolge des Anblicks der Erde von außen, eine kongnitive Veränderung statt. Manche beschreiben ein verstärktes Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen; andere sehen die Erde danach als unbedeutenden, verlorenen Planeten in der Weite des Weltraums treiben, mit dem Menschen als problematische Spezies darauf.
Die elektronische Startsequenz des zweiten Stücks ist vor diesem Hintergrund expliziter als der erste Teil des Albums. Sie genehmigt sich direkt diesen Blick von oben, auch auf die Progressivität. Mit einer Art Parabelflug durchmisst Wilson hier den Orbit, nicht interstellarer Weise, sondern den Blick streng auf unserer Erdkugel gerichtet.
Mit der Zeit reift „The Overview“ immer weiter in diese Perspektive hinein und wird so Stück für Stück zu mehr als lediglich einer hervorragenden Soundschablone, um die neu angeschaffte HiFi-Komponente für die heimische Stereoanlage auf ihren überhöhten Preis hin zu testen.