Das britische Wunderwuzzi zelebriert endlich wieder. Nach einem glatt gebügelten und elektronischen „The Future Bites“ über die Abgründe der konsumgeilen Gesellschaft fokussiert sich Steven Wilson endlich wieder aufs Ignorieren und Sprengen sämtlicher Genregrenzen. Sein siebentes Album „The Harmony Codex“ ist dabei eine Hybridisierung von seinem bisherigen Schaffen – sowohl aus Sicht als Solokünstler als auch Porcupine-Tree-Frontmann.
„Inclination“ eröffnet mit einem treibenden Rhythmus, Melodiefragmenten und Soundeffekten, die an Soundtracks von B-Movies erinnern. Erst nach drei Minuten setzt Steven Wilsons Stimme ein, bevor der Opener erneut Fahrt aufnimmt. Es ist ein guter Vorgeschmack auf die bevorstehende Stunde, ohne zu viel zu verraten.
Das Konzept von „The Harmony Codex“ basiert auf seiner gleichnamigen dystopischen Science-Fiction-Kurzgeschichte. Und auch, wenn es ob der düsteren Vorlage nicht den Anschein erweckt, aber das Album ist durchgehend lebensbejahend.
So kündigt das unheilvolle „Time Is Running Out“ mit den scharfen Beats nicht unbedingt das Ende der Welt an, sondern erinnert vielmehr, dass unsere Zeit begrenzt ist.
Auch „What Life Brings“ ist eine Ode an das Leben: „Love it all and hold it in your hands.“ Es ist ein klassischer Akustiktrack, wie man ihn von Steven Wilson mittlerweile kennt und der auch gut auf ein Album von Blackfield, eines seiner Bandprojekte, passen würde. Das Gitarrensolo – glücklicherweise gibt es derlei reichlich auf „The Harmony Codex“ – zeigt die Nähe zu Pink Floyd.
Die elektrisierende Vorab-Single „Economies Of Scale“ bedient sich modularen Synths und programmierter Drums. Wer Steven Wilsons Art-Pop-Projekt No-Man mit Tim Bowness kennt, weiß um seine Vorliebe für Trip-Hop.
Dieses Faible findet sich auch in „Actual Brutal Facts“. Hier verschmelzt Steven Wilson stotternde Drum-Loops mit New-Wave-Gitarren und huldigt gleichzeitig seinem Debütalbum „Insurgentes“ aus 2008.
Noch druckvoller gerät „Beautiful Scarescrow“. Die wabernden Synths und donnernden Bässe entfesseln die fatalste und kompromissloseste Komposition des Albums.
Mit „Rock Bottom“ gelingt Steven Wilson eine kraftvolle Power-Ballade zwischen tiefster Verzweiflung und sorgloser Hoffnung, die sich keineswegs neu erfindet. Doch ob samtig oder harsch, Ninet Tayebs expressive Stimme geht unter die Haut. Und das zeigte die Gastsängerin auch schon auf den vorangegangenen Alben „Hand. Cannot. Erase.“, „4 ½“ und „To The Bone„.
Als längster Track auf „The Harmony Codex“ ist das exzentrische „Impossible Tightrope“ nicht weniger als ein musikalischer Urknall. Ein konsumierendes, betäubendes wie berauschendes Chaos aus Prog-Rock, Jazz und Electronica fordert uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Es ist ein Kaleidoskop aus hypnotisierendem Saxofon, sakralem Chor und ätherischen Streichern.
Im Vergleich dazu beeindruckt der Titeltrack kaum noch. Zwar schaffen die gebrochenen Akkorde in „The Harmony Codex“ eine ähnlich düster funkelnde Atmosphäre wie der Soundtrack zu Blade Runner, entpuppt sich im Vergleich zum Rest des Albums aber als unspektakulär – und das ob einer Laufzeit von fast zehn Minuten.
Mit einer ähnlichen Länge zeigt sich der Closer „Staircase“ viel kurzweiliger. Über die strudelförmigen Gitarrenläufe spannen sich Streicher und Bläser, bevor hallende Pianoklänge das Album ausklingen lassen.
Jene, denen Steven Wilson die letzten Jahre entweder zu poppig und elektronisch oder zu wenig komplex und rockig war, sollten hier endlich wieder fündig werden. Jeder der zehn Tracks auf „The Harmony Codex“ trägt eine andere Handschrift. Als Metapher ziert eine Treppe aus zehn unterschiedlich farbigen Blöcken auch das Cover-Artwork – ob sie nach oben oder nach unten führt, überlässt er uns.