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Protomartyr – Relatives In Descent

Albert Schweizer hat einmal gesagt: „Mit 20 hat jeder das Gesicht, das Gott ihm gegeben hat, mit 40 das Gesicht, das ihm das Leben gegeben hat, und mit 60 das Gesicht, das er verdient.“

Protomartyr-Sänger Joe Casey hätte demzufolge das Gesicht, das ihm das Leben gegeben hat – und vielleicht auch schon das, das er verdient. Schnauzer, hohe Stirn, schütteres Haar, und mit Basecap trotzdem die coolste Socke des US-Post-Punk.

Ian Curtis hatte nach dieser Rechnung weder das eine noch das andere. Und darin liegt der entscheidende Vorzug von Protomartyr. In ihrem Alter sind die meisten Bands, die sich einem dunkel-depressiven Post-Punk-Sound verschrieben haben, längst verglüht. Das Quartett aus Detroit fängt jetzt erst richtig an.

Ihr viertes Studioalbum „Relatives In Descent“ spielt mit jener Gelassenheit des Alters, die die Depressionen einweiht, statt sie in den Schrein zu stellen. Daraus entstehen für Post-Punk-Verhältnisse erstaunlich verschachtelte Songs, im Tempo gedrosselt, in der Stimmung beschwert und im Ausdruck so komplex und irrational wie das Leben.

Das reicht in Stücken wie „Windsor Hum“ oder „The Chuckler“ von Nick Cave-Gesang bis Interpol-Gitarren, von Viet Cong-Schlagzeug bis Television-Verve. Das allein ist Protomartyr aber noch nicht genug. Sie kochen auch noch die Ursuppe des Protopunks mit, der immer nur halb so schnell eingezählt wird als bei „Blitzkireg Bob“.

Neben der musikalischen Facette sind auch Joe Caseys Texte – gelinde ausgedrückt – unkonventionell. Man spricht vielleicht besser von kryptischen Gedankengängen und Kurzgeschichten eines positiven Nihilisten.

Casey gibt sich einem pluralistischen, nicht immer nachvollziehbaren Stream Of Consciousness hin, der von Elvis und Jesus über nachtaktive Kakteen bis zum Leiden des Mannes reicht – und den Exotenstatus seiner Band in einer der am dunkelsten schillernden Ecke der Popmusik konsequent ausleuchtet.

Vor allem ist „Relatives In Descent“ aber ein überraschend zeitloses Album, in einem Genre, das unvermeidlich an die 80er genagelt scheint. Am Ende wird Albert Schweizers Formel vielleicht doch noch löchrig.

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