An diesem Abend füllt sich das Mehr! Theater am Großmarkt in Hamburg mit zahlreichen Leuten, die den wohl stärksten Export der deutschen Musik-Szene der letzten Jahre bei ihrer Heimkehr begrüßen wollen.
Hamburg ist zwar nicht Kassel, und der heutige Abend nicht das einzige Deutschland-Konzert von Milky Chance auf dieser Tour, das Publikum lernt aber im Laufe des Abends, dass Frontmann Clemens Rehbein jedenfalls tief in Hamburg verwurzelt ist. Und das Publikum lernt Paulina kennen, ehemalige Mitschülerin aus Kassel und überraschendes Gesangstalent. Irgendwie fühlt es sich also doch an wie ein Homecoming.
Eröffnen dürfen den Abend in der großen Halle, die immer ein wenig industriellen Charme versprüht, Lola Marsh aus Tel Aviv, dem kulturellen und kreativen Hotspot Israels. Die Mikrofone sind nicht nur mit einzelnen Rosen, sondern mit ganzen Blumensträußen geschmückt und fügen sich perfekt in das farbenfrohe Lichtspiel der Show von Lola Marsh ein.
Yael Shoshana Cohen, die Sängerin der Band, haucht in „You’re Mine“ erste Zeilen in die floralen Gesangsverstärker und wird dabei von minimalistischen Drums und einem atmosphärischen Bass begleitet. Mit ihrer Stimme ist es wie mit der ganzen Band. Auf den ersten Blick wirken beide sehr zerbrechlich, ängstlich beinahe, auf den zweiten sind beide im Stande dazu, große Soundkunstwerke aufzustellen, ohne dass diese einzubrechen drohen.
Die Stimme stellt sich wie auf einer Heldenreise immer neuen Herausforderungen und wächst an diesen ins Unermessliche. Die Synthesizer, der Bass und die Drums liefern die notwendige Kulisse für dieses Erlebnis, das irgendwie bekannt, irgendwie aber auch total fremd wirkt.
Man könnte Lola Marsh an diesem Abend mit anderen Indie-Rock-Projekten wie Angus & Julia Stone vergleichen, aber dafür geht der Bass zu tief in die Knochen, die texte zu tief ins Herz. Man könnte die narrative Atmosphäre von Lola Marsh mit Melodramatik-Ikone Lana Del Rey vergleichen, aber Lola Marsh klingen viel authentischer. Ohne Arroganz gelingt es der Band aus Israel an diesem Abend, haufenweise tranceartige Bewegungen zu dirigieren und sicher den ein oder anderen beeindruckt zurückzulassen.
Nach dem Vorprogramm füllt sich das Mehr! Theater jetzt endlich völlig auf. Erwartungsvoll werden schon einige Milky Chance-Hits in einzelnen Publikumstrauben gesungen. Viele Paare sind dabei, und man weiß bei den meisten nicht genau, wer in der Beziehung dieses Konzert ausgesucht hat. Denn alle freuen sich.
Um neun Uhr betreten die Rückkehrer dann die Bühne. Clemens Rehbein, Philipp Dausch und Antonio Greger haben noch den Drummer Sebastian Schmidt mitgebracht, der am Schlagzeug dafür sorgt, dass die von computergenerierten Beats getriebenen Songs live ein wenig mehr Masse erhalten.
Mit „Clouds“ wird das Set eröffnet und von ersten Sprungeinlagen Rehbeins begleitet, der mittlerweile eher wie Johnny Depp als wie der bekannte Strubbelkopf aus den Anfangszeiten aussieht. An seinen Füßen bewegen sich glitzernde und abgetragene Chucks im Takt der Musik, die live um eine angenehme und natürliche Ebene erweitert wird. Hier wirkt es dann weniger kalkuliert, die vielen Beats Hand in Hand gehen zu hören, als auf der Platte, wo man manchmal meint, schon genau zu wissen, wo die Reise hingeht.
„Ego“, „Blossom“, „Doing Good“ und „Down By The River“ sorgen recht früh in dem Set dafür, dass das Publikum sich willig an der Performance beteiligt, große Teile mitsingt und Ausflüge in die Improvisation und den Blues entschuldigt. Zu entschuldigen gibt es sich eigentlich für nichts, denn gerade diese Ausflüge machen das Set interessanter, als man es im Vornherein vielleicht erwartet hätte.
Die Gesichtszüge von Rehbein, Greger und Dausch, der sich mittlerweile aus seinem Drum-Zirkel gelöst und an den Bass gewagt hat, verziehen sich beim Jammen, während Gastsängerin Paulina beweist, dass aus Kassel nicht nur eine besondere Stimme kommt. Da merkt der Zuschauer, dass auf der Bühne Spaß gehabt wird, Emotionen im Spiel sind.
Eine Mundharmonika wird von Greger erst virtuos mit Western-Charme bespielt und danach in hohem Bogen in den Hintergrund geworfen, wo schon jemand darauf wartet, das wichtige Instrument zu fangen. Was für ein Job, Mundharmonika-Fänger bei Milky Chance.
Diese Energie kann auch ein Ruf aus dem Publikum nicht dämpfen, den Rehbein erst nicht versteht, dann nachfragt, und als er sich als Forderung nach dem Hit „Stolen Dance“ herausstellt, mit einem nüchternen „Ach so, ja.“ weggrinst. Seine nüchterne Art ist es nämlich, die es an diesem Abend niemandem möglich macht, Milky Chance böse zu sein dafür, dass ihr zweites Album weitaus poppiger klingt als das erste. Oder dafür, dass die synthetischen Beats manchmal zwischen Markenzeichen und Übernutzung pendeln.
Denn Clemens Rehbein wird an diesem Abend niemandem im Publikum sagen, dass immer alles gut wird, er wird keine Feuerwerke heraufbeschwören oder allzu viel in sein Mikrofon jubeln, dabei übermäßige Danksagungen auf das Publikum niederrasseln lassen. Er wird in seiner authentischen, leicht verpeilten Art auf der Bühne stehen, Zwitschergeräusche aus dem Publikum nachahmen und sich dabei selbst einen Lachkrampf verpassen.
„Stolen Dance“ singt er natürlich noch, in der Zugabe, und da seine Aussprache des Englischen sowieso immer etwas individuell ist, würde man es ihm auch gar nicht anmerken, wenn der Song ihn mittlerweile etwas langweilen würde. Verübeln könnte man es ihm genau so wenig.