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Steven Wilson – Live in der Alten Oper, Frankfurt

Der Godfather des Neo-Prog hat mit der alten Oper Frankfurt einen mehr als würdigen Rahmen für seine kunstvolle Rockmusik auserkoren. Er lässt mit seiner Bühnen-Show und insbesondere den Visuals kaum Wünsche offen und setzt sich trotzdem nicht die Live-Krone auf, die man vor dem geistigen Auge bereits auf sein Haupt herabgleiten sah.

Die Erwartungshaltung im Vorfeld eines Steven Wilson Konzerts ist hoch, vielleicht unverschämt hoch: Die Musiker auf der Bühne werden tadellos sein. Technisch perfekt und virtuos – der Chef Wilson sowieso.

Der Sound wird umwerfend gut und druckvoll und für eine Rockshow außergewöhnlich klar und differenziert ausfallen. Die Effekte werden stilvoll eingesetzt werden und an den nötigen Stellen mit Überraschung punkten können.

Diese Messlatte hat sich der Brite Jahr um Jahr weiter nach oben gelegt. Jetzt darunter durchzugehen, und die Stagnation oder gar ein Herunterschrauben um eine Stufe zu beklagen, mag unfair sein, sie bleibt aber selbstverschuldet.

Vor der Bühne hängt ein Projektionsnetz, eine unsichtbare Stimme kündigt einen kurzen Vorabfilm darauf an und fordert die Zuschauer auf, sich in ihren Sitzen zurückzulehnen. Über das transparente Netz laufen unter anderem Bilder eines maskierten Mannes, Ku-Klux-Klan-Kutten oder Neil Armstrong auf dem Mond.

Den Bildern sind Headlines wie „Information“, „Ego“, oder „Science“ zugewiesen. Und während sich die Bilder wiederholen, wechseln die Headlines ihre Zugehörigkeit. Das Ziel: Jedes Stigma ändert die Bedeutung des Bildes.

Es ist die bewusste Politisierung von Wilsons Show, die er – noch während die Bilder laufen – mit „Nowhere Now“ vom aktuellen Album „To The Bone“ eröffnet. Für das anschließende Duett „Pariah“ mit der Sängerin Ninet Tayep erscheint diese dann als überlebensgroßes Hologramm auf eben jenem Projektionsnetz, das immer wieder zur optischen Unterstützung über die Bühne gezogen wird.

Bis hierhin läuft alles, wie es zu erwarten war: Die Oper erfüllt ein hervorragender Sound, der von fünf Musikern ausgeht, die tadellos ihr Handwerk beherrschen.

Um vorherzuagen, dass die Stücke überwiegend von der aktuellen Platte „To The Bone“ stammen, braucht es ebenfalls kein Orakel. Doch ehe man sich versieht, ist ein eher unspektakuläres erstes Set zu Ende, bei dem vor allem die Bilder vom Anfang bleiben.

Das zweite Set wird es richten, denkt man sich still in das zehn-minütige Pausen-Bier hinein und prompt liefert Wilson ab. Er spielt den Porcupine-Tree-Klassiker „Arriving Somewhere“, der für einige mit Sicherheit einen der ersten Berührungspunkte überhaupt mit Wilsons umfangreichem Schaffen markiert.

So könnte es weitergehen, aber Wilson spielt nicht mit. Er kehrt schnurstracks zurück in die Gegenwart und erklärt erstmal: Warum seine Mutter von Serien-Killern fasziniert war, er dadurch auch. Wie sein Vater den Prog-Plattenschrank bereit hielt, seine Mutter für seinen Hang zur Popmusik verantwortlich war, warum Abba gut und Justin Bieber schlecht sind. Und dann spielt er„Permanating“, seine neue Single, die eben genauso klingt wie „Mamma Mia“.

Mit „Lazarus“ und „Heartattack in Layby“ streut er nochmals zwei Porcupine-Tree-Songs zwischen die neuen von „To The Bone“. Sie entschädigen, denn man muss das Kind beim Namen nennen: Sein neues Album kann mit Wilsons‘ bisherigem Schaffen einfach nicht mithalten und bei einem derart umfangreichen und mit großartigen Stücken gesegneten Oeuvre, bleibt eigentlich keine Zeit für Abba.

Nach einem weiteren Porcupine-Tree-Song ist dann auch das zweite Set zu Ende und man fragt sich, wo waren die Übersongs von „Hand. Cannot. Erase.“, von „Insurgentes“ und seiner mutmaßlich besten Platte „The Raven That Refused To Sing“, die bisher überhaupt gar nicht stattgefunden hat?

Immerhin zwei davon gibt es als Zugabe. Erst das impulsiv-hymnische „Harmony Korine“ und dann der Titelsong von „The Raven That Refused To Sing“ mit dem wunderbaren Video von Jess Cope und Simon Cartwright.

Und da ist es, dieses abseitige, ja fast himmlische audio-visuelle Gesamtkunstwerk, das auf diesem Niveau seit Pink Floyd keiner besser hin bekommt als Wilson. Es ist der Augenblick, an dem man sich an der Messlatte den Kopf stößt. Der Konzertmoment, zum unter die Haut stechen.

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