Songs von Adrianne Lenker sind ein bisschen wie Wiegenlieder für Erwachsene. Auf „Abysskiss“ zupft sich die Tour-Nomadin zuverlässig an den Abgründen ihrer Seele entlang, befragt dabei ihr inneres Kind und verliert nie den Optimismus, das Unausweichliche als das Richtige, vielleicht sogar das Erstrebenswerte zu kultivieren.
Apokalyptischer Abgrund, okay. Doch niemals ohne süßen Abschiedskuss! Die Dichotomie des Albumtitels gedeiht nun schon seit Jahren. Die Songs sind dabei irgendwo zwischen Highways, Backstage-Buffets, Gartenidylle und schlafwandlerischer Luzidität entstanden.
Schon auf „Terminal Paradise“, dem Opener von Lenkers zweiter Soloplatte, larmoyiert die Big-Thief-Sängerin über den Ursprung des Lebens – bereits die Geburt eines Menschen zöge post-traumatisches Chaos nach sich.
Dass die New Yorkerin in zehn weich gebetteten Folk-Nummern nach dem Halt sucht, der oft genug auf Autobahnraststätten vergessen wurde, lässt sich mit Blick auf ihre Vita nachempfinden: Die ersten Jahre verbrachte sie an der Seite ihrer Eltern zwischen Van und kultischer Glaubensgemeinschaft.
Mit fünf fiel ein Schienennagel ihres Baumhauses auf Lenkers Kopf und kostete sie fast das Leben. Drei Jahre später war die Songwriterin, die selbiges Talent nur wenig später entdecken sollte, bereits 14 mal umgezogen. Ihr Vater dachte, er könne seine Tochter sogleich zum Kinderstar aufbauen. Kurzum: Es gibt Geschichten, die lesen sich unbekümmerter.
Nun macht Lenker eben Musik, die daran erinnert, dass die größte Superkraft eines Menschen darin bestehen kann, verschüttete Ängste und unüberwindbare Schwächen zuzulassen – und provoziert Stimmungen, von denen man sich für gewöhnlich wünscht, sie nie erfahren zu müssen. Das sind Wunden, denen man zusehen kann, wie sie vernarben.
Dabei untersteht jeder einzelne Song den mild gestreichelten, in „Cradle“ fast schon harfen-ähnlichen Akustik-Akkorden, die sich den Schall einzig in „Out Of Your Mind“ mit elektrisch-verstärkten Grunge-Akzenten teilen müssen.
Mit Bausteinen aus Americana-, Indie- und Kammer-Folk hat Lenker ihr Paradeinstrument zur besten Freundin domestiziert, sofern hier Stücke im Stil von „Symbol“ wirken, als wären sie in einem entgeisterten Kabarett aufgenommen worden. Wo sind all die Trauerikonen?
Es ist eine Kunst für sich, narratives Songwriting über zehn Tracks hinweg derart persönlich zu halten. So ist es kaum interessant, mit welchem instrumentalen Einsatz die feenhafte Lullaby-Lyrikerin ihre Musik ausstaffiert – die Magie steigt aus dem empor, das gar nicht stattfindet.
In der Erkundung der Reduktion – ein Schlagzeug wurde hier gänzlich aus dem Studio verbannt – erlebt Lenker auf „Abysskiss“ noch einmal ihre Traumata, flankiert zwischen Schmerz und Verlust und verzeiht sich am Ende ausreichend, um mit erschöpftem Lächeln ins Bett zu fallen – selbstverständlich nicht ohne Sternenmobile!