Amanda Palmer. Überzeugte Vollblutkünstlerin mit sehr viel zu sagen. Dazu reicht es nicht, einfach ein Konzert pro Stadt zu spielen. Zusätzliche Treffen mit ihren Patreon-Unterstützern oder ungeplante „Ninja-Gigs“ gehören dazu.
14:00 Uhr
Nach Wien jetzt auch in Hamburg ein Nachmittags-Gig für OPEN PIANO for Refugees. Auf der Wiese bei den Kleinen Wallanlagen gegenüber der Laeiszhalle. Die Sonne kommt genau pünktlich raus. Familiärer geht es fast nicht mehr. Gut 200 überzeugte Fans dicht gedrängt am Boden um das Piano auf der Wiese. Mit Kindern, Hund und Strickzeug.
Amanda kommt zusammen mit Judith Holofernes. Eröffnen gemeinsam mit einem Gedicht von Judith und Vogelgeräuschen von Amanda. In den letzten Tagen häufig gelesen, Amanda meint es ernst: wer sich das Konzert am Abend nicht leisten kann, soll sie ansprechen. Sie löst das. Versprochen.
Auf Wunsch geht’s weiter mit „Missed Me“ für den richtigen Level an Cabaret. Entspannte Stimmung, Lachen, Publikum kommt an. „Creep“ von Radiohead auf der Ukulele.
Eine Meisterin darin, die Grenze zwischen Darbietung und Publikum zu verwischen. Gemütliches Schlendern durchs Publikum. Persönliche Blicke, kleine Berührungen, Zunicken. Sofort wird jeder Teil des Ganzen.
Die Stunde vergeht in Windeseile und bester Laune. Amanda überredet Judith sie bei „Schrei nach Liebe“ von Die Ärzte zu unterstützen. Definitiv ein Highlight! Das gemeinsame „Arschloch“ im Refrain hört man sicher durch die halbe Stadt.
„Die Seeräuber Jenny“ von Brecht/Weill führt mit viel Spaß wieder zurück zu den Wurzeln. Deutsche Cover sind eindeutig keine Hürde für sie.
Flüchtlinge, Klima, Nazis, … Vor allem die Rolle der Kunst. Grundlegendes menschliches Bedürfnis. Und soziale Verantwortung. Perfekter Überleitung zum abschließenden „Ukulele Anthem“. Alle heutigen Themen mit eingearbeitet. Die Welt könnte soviel besser sein.
Persönliche Begrüßungen, Tränen der Freude und Rührung. Emotional intensive Stimmung, die Gruppe löst sich langsam auf. Amanda zieht sich mit Judith und den Patreons zurück für Fotos und eine längere Diskussion über die Plattform Patreon.
Baschließender Appell: heute Abend fängt super früh an. Wir müssen nach drei Stunden raus sein. Kommt pünktlich!
18:30 Uhr
Das ehrwürdige Gebäude der Laeiszhalle füllt sich. Vibrierende Vorfreude überall. Der Saal gut gefüllt, einzig auf den Rängen noch Sitze frei.
„In My Mind“. Wieder mit der Ukulele durchs Publikum spazierend. Keine Verstärkung, die Stimme füllt den Raum perfekt. „I am exactly the person that I want to be.“ Ein Teil des Tones für den Abend ist gesetzt.
Begrüßung, Publikumswünsche. Schnell, schnell, wir haben heute nur drei Stunden Zeit. Die Show maßgeschneidert, ohne Script. Man merkt, dass ein gewisser Faden vorhanden ist. Aber doch ist wirklich jede Show anders. Unvermeidbar wiederkehrende Themen, aber jedes Mal mit „lokaler“ Stimmung und eigenem Spin. Immer in Interaktion mit dem Publikum, Wünsche werden umgesetzt.
„Astronaut“ explodiert förmlich. „Die Seeräuber Jenny“ viel voluminöser und mit mehr Dynamik als am Nachmittag. Das Piano, mit Verstärkung, kommt mit Wucht. Amanda, mit wild strubbeligen Zöpfen, tobt sich förmlich daran aus. Der ganze Körper, die Mimik, alles kanalisiert sich in den Ausdruck der Musik.
Das Publikum darf entscheiden. Soll der weitere Abend unterhaltsam und lustig werden, oder düster und abgründig? Klare Antwort – dunkel und düster. Wusste sie, wir sind ja in Deutschland.
Der rote Faden ist ab jetzt intensive Erzählungen aus ihrem Leben und die dazugehörigen Stücke. Aufwühlendes Auf- und Ab. Verstörende Erfahrungen durch Anfeindungen aus dem Netz führen zu „Bigger Inside“.
Beinahe-Vergewaltigung mit 14 – Luftanhalten im Raum. Die Stimmung fängt sie kontrolliert wieder ein mit dem Witz von „Coin Operated Boy“. Harte Selbstironie.
Die eigenen Abtreibungen. Hilflosigkeit. Der Tonfall des daraus entstandenen „Oasis“ die Verarbeitung. Und wieder massive Drohungen als Reaktion.
Das persönliche Leben offengelegt. Und immer an der Hand die Gesellschaft und Politik. Kunst darf nicht nur gefallen. Kunst muss auch die dunklen Bereiche ausleuchten.
Und das kann und muss auch für das Publikum schmerzhaft und ungemütlich sein. Diese These stellt sie nicht nur auf, sie setzt sie ungemein intensiv um.
Nicht zurückhaltend mit intimsten Details. Ironie, Sprachwitz und die Musik für die richtige Balance. Ohne Humor würde sie das alles nicht überstehen. „Schrei Nach Liebe“ von den Ärzten angereichert um ein paar Zeilen Madonna, intensiver als noch am Nachmittag.
Zu „Machete“ ist das Publikum schon paralysiert. Es wirkt mehr erleichternd als aufputschend wie sonst. „A Mothers’s Confession“ vorgetragen mit viel Ironie in der Stimme wirkt befreiend. Der Refrain mit dem Publikum im Stehen gesungen, ein Erlebnis.
Die Geschichte ihrer Fehlgeburt im Winterhotel führt zu „Lass Jetzt Los“ aus „Die Eiskönigin – Völlig unverfroren“. Mit passendem Licht!
Stehende Ovationen. Tosender Applaus nimmt kein Ende. Die Balance genau richtig mit leichtem Überhang zur guten Laune choreografiert.
Konzert, politischer Protest, Therapie? Wer therapiert wen? Eine schonungslos mitreißende Achterbahn. Mehr als drei Stunden ohne Pause. Keine Minute davon langweilig.
Ein Abend wie das Leben – „It’s just a ride.“ Die 800,- EUR Strafe zahlt sie gerne, um die Sperrstunde zu überziehen. Sonst würde sie die Zugabe „The Ride“ nicht mehr schaffen.
Was für eine Persönlichkeit! Amanda. „Fucking“. Palmer.