Ob „Wedding“ oder „Tempelhof“: Namen sind auf „Alles In Allem“ kein Programm, machen die Titel das neue Einstürzende-Neubauten-Album nicht zur Berlin-Hommage, hat es ein fertiger Song mit direktem Bezug zur Stadt gar nicht erst auf die Platte geschafft.

Trotzdem: der Geist, der vor 40 Jahren hinter der Mauer einen Pakt mit den Musikern, deren Schaffen fortan Gegenentwurf künstlerischer Konformität wurde, einging, findet sich dann doch ab und an auf der Platte.

Umweht „Am Landwehrkanal“ das Freiheitlich-Revolutionäre vom „Rauch-Haus-Song“, erzählt „Grazer Damm“ autobiografisch vom Habitat des Christian Emmerich als er noch nicht Blixa Bargeld war.

Geändert hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten nicht nur diese Gegend und mit ihr die gesamte Hauptstadt. Einstürzende Neubauten erreichten mit legendären Equipment und der Transformation von Avantgarde auf Festspielhaus-Level Kulturgut-Status, hielten dabei mit jeder Veröffentlichung die eigene Reproduktionszahl weit unter eins.

Nicht allen Puristen aus den Gründerjahren gefiel ihr musikalischer Werdegang, diejenigen, die nicht zu „Dead Friends (Around The Corner)“ wurden, entwickelten eine umso engere Bindung zur Band, entwickelten mit ihnen das „Supporter Project“  als alternatives Finanzierungsmodell, was sie bis dato eng in den Entstehungsprozess von neuen Material involviert.

Immer beweglich wie das, vor 12 Jahren auf „Alles Wieder Offen“ besungene, wandelbarste Element, blieben bei den Einstürzenden Neubauten über die Jahre einige Fixpunkte, ist die Dynamik der geschlagenen Federn noch immer so präsent wie der Schrei ihres Frontmanns der – so gern er auch über seine Musik spricht – bei seiner Weigerung bleibt, als Deutungshilfe neuer und alter Songs zur Verfügung zu stehen.

„Alles In Allem“ bleibt, was Neubauten-Alben immer waren: spektakulär, unerklärlich, interpretierbar.

Inzwischen zugänglicher, dabei gleichbleibend fruchtbarer Nährboden für Blixa Bargelds Poesie, die lauert, verwirrt, schmeichelt und – „Wo man denkt, es wäre gut, ist es vielleicht nicht so, und wo es gut nicht sein sollte, ist es vielleicht doch so“-  im Augenblick möglicher Eindeutigkeit verklausuliert bleibt.

Die Töne aus Rohren und Spiralen (inzwischen in DIN-Größe für das Packmaß im Flugzeug-Bauch) und allen anderen – in der Mehrheit nicht mehr vom Schrottplatz stammenden – Geräuscherzeugern, werden von den Experimentalisten mit Hilfe des Strategiespiels „Dave“, ein eigener analoger Zufallsgenerator, neuerlich ins bestmögliche Verhältnis gesetzt, denn „Es gibt nur den richtigen oder falschen Klang in einem bestimmten Kontext“ so ihr Sänger.

Ein opulent-schwelgerisches „Möbliertes Lied“ lässt die aus der „Perpetuum-Mobile“-Zeit stammende Aircake wieder pfeifen. An anderer Stelle führt eine raumgreifende Orgel, finden Violine und Harfe ihren Platz neben schwingenden Blechen, sind mit Nudeln, Nägeln und Lumpen gefüllte Taschen Taktgeber, führt ein „Zivilisatorisches Missgeschick“ die Fäden vom frühen, unheimlichen, „Das Schaben“ mit den fallenden Metallteilen des späten „Grundstück“ zusammen.

Den Text von Letzterem transportiert „Taschen“ in die Gegenwart, verbindet die Traumbilder seiner Worte mit der Lyrik vom palästinensisch-schwedischen Dichter Ghayath Almadhoun zum Thema Flucht und Mittelmeer, sind hier wie auf dem Rest der Platte weit mehr als „Seven Screws“ nötig, um das differenzierte Gesamtbild von „Alles In Allem“ zusammenzuhalten.

„In der Unendlichkeit bin ich auch, alles in allem, unendlich oft vorhanden“ spricht der Titeltrack – was inzwischen für das Gesamtwerk der Herren Bargeld, Hacke, Unruh, Arbeit und Moser bezogen auf das Musik-Universum gelten dürfte.

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