Die Dunkelheit in mir braucht nervöses Neonlicht – Girlwoman im Interview

Als Girlwoman vor anderthalb Jahren mit „Rote Riesen schlafen nicht“ nicht bloß ihren ersten Elektro-Pop-Weckruf, sondern gleichermaßen auch eine hypnotische Ode an die Schlaflosigkeit vorlegte, war man durchaus gespannt, wie die Staatsakt-Newcomerin diese künstlerische Leitlinie in ein großes Ganzes übersetzen würde. Konsequenterweise heißt nun nicht nur das Debütalbum „Das große Ganze“ – ebenfalls die Welten, die darin skizziert werden, schlagen einen universalen Bogen zwischen dissoziativen Identitätsverlusten und in sich gekehrter Alltagspoesie, lethargischem Weltschmerz und nervöser Großstadt-Dystopie, gefälligem Mainstream-Paradigma und experimentellen Stilausbrüchen. Im Interview hat uns die Sängerin verraten, wie grundlegende Gegensätze Einfluss auf ihr musikalisches Schaffen nehmen, zufällige Formen ihre Welt formen und welche Rolle dabei nicht nur die Dunkelheit, sondern auch ihre Heimatstadt, Bielefeld, spielen.

MusikBlog: Axana, in nahezu keiner Meldung über dich bleibt unerwähnt, dass du Bielefelderin bist und wie dein eigentlich großstädtischer Sound tatsächlich in der „Provinz“ entstehen konnte. Findest du die Einschätzung nicht auch ein bisschen arrogant oder schmeichelt dir das „Sonderlob“?

Girlwoman: Eine Stadt aufs Großstadt-Feeling zu reduzieren, ist schon vermessen. Ich glaube, die Leute denken, dass ich hier so sitze, nicht verreise, keine Party mache, gar nichts mache. Ich weiß gar nicht, wie die Menschen sich das vorstellen. So Mini-Provinz ist das hier auch nicht. Wir haben schon auch drei gute Clubs. (lacht) Es bleibt aber nicht unerwähnt, das stimmt.

MusikBlog: Du bist seit vergangenem Jahr Teil der Staatsakt-Familie. Was glaubst du, genießt man dort, was es in anderen Labels nur schwer zu genießen gibt?

Girlwoman: Zuerst würde ich sagen, ich genieße Maurice (Maurice Summen, Staatsakt-Labelchef, Anm. der Red.). Er ist großartig. Ich genieße die Gespräche, Anregungen, einfach diesen Menschen, der mir kunterbunte Dinge erzählt, sie sich aber auch von mir erzählen lässt. Das war eine glückliche Fügung, wo ich abgesahnt habe – die aber auch zufällig war. Ich meine: Ohne die Pandemie hätten wir unseren Kram wahrscheinlich gar nicht an Staatsakt geschickt.

MusikBlog: „Glückliche Fügung“ meintest du gerade…

Girlwoman: Wir haben damals den Roten Riesen (gemeint ist die Debütsingle „Rote Riesen schlafen nicht“, Anm. der Red.) eingesendet und geschrieben: „Ey, hört doch mal rein.“ Erst kam nichts zurück und dann doch. Es hat funktioniert.

MusikBlog: Eine Frage mit Blick auf dein Albumcover: Weltall und Walkman, Raumanzug und Gameboy. Das Display zeigt das Haus vom Nikolaus. Inwieweit nimmt das Cover, das du neben vielen weiteren Illustrationen für dein Album selbst entworfen hast, „Das große Ganze“ vorweg?

Girlwoman: „Das große Ganze“ ist nicht nur Weltall, nicht nur das eine oder das andere. Es gibt ‘ne Zeile auf dem Album, die ist sehr essentiell: „Hilft es zu pathologisieren / Um das große Ganze zu kapieren?“. Es geht um das Alles. Und das Alles ist manchmal groß und viel. Und dann gibt es Eindrücke, die sehr klein sind – wie ein Gameboy. Das ist ja auch ein Weltall für sich. Ich denke, dass man das in allen möglichen Dingen finden kann. Das Album heißt „Das große Ganze“, weil ich genau davor so ehrfürchtig bin. Du kannst es überall suchen, du kannst es überall finden. Manchmal hast du aber eben auch Angst davor.

MusikBlog: Bleiben wir bei deiner Debütsingle: „Rote Riesen schlafen nicht“ kam schon vor anderthalb Jahren raus. Die Arbeit an dem Album betrug insgesamt drei Jahre. Alles hast du bei dir zu Hause mit Rasmus Exner aufgenommen. Wenn man bedenkt, wie hektisch du dich auf dem Album durch „einen Wald aus Leuchtstoffröhren“ bewegst, war da geduldige, häusliche Intimität nicht genau das richtige Mittel, um das „Bilderbuch in deinem Kopf mit einer gewaltigen Sammlung an Momentaufnahmen“, wie du selbst sagst, künstlerisch zu verarbeiten?

Girlwoman: Ich denke schon, (hält inne) weil ich glaube, dass, wenn man Geschichten erzählt oder intime Momente preisgibt, es eine Umgebung braucht, die zu Hause ist – wo du dich wohl fühlst, die Sicherheit ausstrahlt. Ich kann mich hier zurück ziehen, mich frei fühlen, experimentieren und muss mich dafür nicht schämen, denn ich bin bei mir allein. Ich bin gerne zu Hause und genieße es, einen Ort zu haben, den ich so nennen kann und an dem ich all meine Bilder abrufen kann – auch wenn ich nicht immer zu Hause war, als ich meine Texte geschrieben habe.

MusikBlog: Ist ja schon bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass sich der Großteil der hiesigen Musikkritik unter anderem darum befleißigt, dich auf die lokal eingrenzende Tatsache zu beschränken, dass du „Bielefelderin“ bist.

Girlwoman: Ja, aber woher wollen die denn wissen, was für Welten in meinem Köpfchen sind?

MusikBlog: Wir reden also von Welten in deiner Musik, die abseits von Raum und Zeit bestehen? In unserer Rezension zu deinem Album hat Kollege Lukas Kissel bemerkt, dein Album könnte auch der Versuch sein, „eine düstere Welt für die Melancholischen und Schwermütigen“ zu schaffen? Was hältst du von der Einschätzung?

Girlwoman: Hm, um das behaupten zu können, könnte man selbst, muss man aber nicht melancholisch oder schwermütig sein. Ich hoffe, dass Menschen, die sich als eher weniger melancholisch oder schwermütig verstehen, in meinem Album dieselben Chancen sehen, sich wieder zu finden. Die Beschreibung der Welt, von der ich da rede, ist aber durchaus düster. Doch nicht nur. Sie ist auch dystopisch. Aber nicht nur. Dieses Für und Wider ist vielleicht die Angst, die Angst vor dem großen Ganzen. Vielleicht auch die Sehnsucht danach.

MusikBlog: Also ist das große Ganze eigentlich ein großer Widerspruch, eine Spannung aus erfahrbarer Realität und ebenso alltäglichen Gedankenspielen?

Girlwoman: Ich habe eine riesige Welt in meinem Kopf. Das ist das wirklich Interessante an uns Menschen. Das Spannende ist doch, dass ich eine Wirklichkeit habe, von der ich dir erzählen kann.

MusikBlog: In deinen Lyrics nimmst du viele Bezüge auf Oberflächen, veränderbare Formen, bewegliche Farben. Alles scheint ineinander überzulaufen. Wie kreieren diese plastischen Eindrücke deine Wahrnehmung oder wie du sagen würdest: die „Kulisse deines Lebens“?

Girlwoman: Ich habe einen für mich speziellen Zugang zur Ästhetik gefunden, bestimmte Dinge sind mir auf meine Weise augenscheinlicher – zum Beispiel wie Oberflächen gestaltet sind oder wie sich Formen zueinander verhalten oder… (hält inne)

MusikBlog: Naja, es ist ja einfach sehr beeindruckend, wie plastisch du die Welt wahrnimmst und bemerkenswert, was für eine Beobachterin du bist – gerade wenn es um Fragen geht wie: „Wie sind die Formen der Dinge?“ oder „Wie beweglich können Farben sein?“ Ich frage mich: Wie tut sich all das in deinem Kopf zusammen? Es wirkt so, als würde sich darin alles verformen. Zu Meta?

Girlwoman: Das ist gar nicht Meta. Aber du redest ja mit mir und betrachtest alles von außen. Für mich hingegen ist das alles sehr normal. Ich merke aber auch selbst, dass ich nicht mit allen Menschen gut darüber kommunizieren kann – was es wiederum spannend macht, eine andersartige Wahrnehmung zu schildern, eine Sensibilität dafür zu schaffen, dass eben jeder eine andere Wahrnehmung hat. Bezüge zwischen Dingen sind so gehaltvoll. Ich komme ja aus der Kunst und liebe es, Formen zu manipulieren, Getrenntes wieder neu zusammen zu setzen, ich könnte mich Stunden lang darin versenken.

MusikBlog: Du kommst aus der Kunst?

Girlwoman: Ich wollte eigentlich immer Illustratorin werden, habe da auch ganz lange drauf hingearbeitet. Ich dachte dann: „Ich, Axana, das ist ein Wesen mit Stift, das beschreibt, was es sieht und wie es neue Bezüge herstellt, die es zu Papier bringt.“ Dann wird man groß und merkt, dass das alles vielleicht gar nicht so romantisch war, wie man’s sich vorgestellt hat.

MusikBlog: Aber als Musikerin ist da gleichermaßen künstlerisch was möglich, oder?

Girlwoman: Yes, Musik ist für mich genauso eine Ausdrucksweise. Ein Sich selbst in der Zeit verorten mit dem Hier und dem Jetzt.

MusikBlog: Dafür sprechen auch deine Lyrics. Da findet stets ein schlaftrunkenes lyrisches Ich statt, das weltverschmerzt durch „Die Nacht“ zieht. Man sieht’s ja auch in den Videos zu den Tracks von dir: Es herrscht fast immer Dunkelheit. Die dunkle Kühle darin wird höchstens mal von nervösen Neonfarben erwärmt. Oder dein Cover: Das ist in ein schwarzes Weltall eingehüllt, auch hier bloß in Akzenten von leuchtenden Sternen erhellt. Welche Rolle spielen diese Gegensätze in deiner Musik?

Girlwoman: Welche Rolle spielen generell Gegensätze in meiner Musik? Ich überlege gerade selbst, wie ich dem auf den Grund gehen könnte. Vielleicht ergeben sich die Gegensätze aus einer Tiefe oder einer Dunkelheit, die aus mir selbst spricht und der ich versuche, viel entgegen zu setzen. Ist auch vielleicht etwas zu persönlich.

MusikBlog: Okay, dann an der Stelle schnell was Offensichtlicheres?

Girlwoman: Ne, das war schon okay, eine nette Frage! Aber die Dunkelheit in mir braucht manchmal nervöses Neonlicht.

MusikBlog: Gut, wie war denn eigentlich die Zusammenarbeit mit der Grammy-nominierten Producerin Veronica Ferraro, die dein Album final gemischt hat?

Girlwoman: Ja! Jaa! Jaaaa! Wir treffen uns um Weihnachten herum und ich freue mich so, sie endlich mal live kennen zu lernen. Maurice hatte vorgeschlagen, das Album von ihr mixen zu lassen. Unter anderen Umständen hätten wir das Album auch selbst gemixt. Es war dann auf jeden Fall krass, seine eigenen Sachen abzugeben. Bei so einem Mixing, wo du vorher vielleicht dachtest, da werden jetzt nur noch Nuancen, Akzente bearbeitet, da kommt nur noch so’n bisschen Puderzucker oben drauf, da wird’s dann aber plötzlich groß und pompös und du denkst dir: „Krass! War ich das etwa? Ja, das war ich!“

MusikBlog: Apropos „pompös“, „groß“ und „Du“: Demnächst geht’s dann ja auch auf deine erste Mini-Tour: Düsseldorf, Berlin, Hamburg und Köln stehen auf dem Plan. Worauf freust du dich?

Girlwoman: Ich weiß gar nicht so genau, worauf ich mich freue. Am meisten freue ich mich wohl darauf, meine Leute zu sehen, die ich in den jeweiligen Städten erwarte. Freunde, Bekannte, überhaupt Menschen, die Bock haben, meiner Musik zuzuhören. Und ich freue mich richtig krass auf Live-Feedback! Es ist so anders, wenn Leute live auf dich reagieren und du instant was zurück bekommst. Ansonsten war’s ja bisher nur digital. Da kriegst du im Nachhinein mal ‘ne Mail oder so, aber in den direkten emotionalen Austausch zu gehen, darauf freue ich mich am allermeisten. Ich will wissen, wie das wirkt, wie das ankommt, ich will Gesichter von Menschen sehen.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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