Es glich einem Triumphzug durch die elektronische Musikgeschichte dieses Landes. Kraftwerk, die wohl einflussreichste deutsche Band aller Zeiten, lieferte gestern auf der Fassade des Karlsruher Schlosses und von dessen Balkon aus ein lautstarkes, visuelles Spektakel.
Die Mensch-Maschine um Soundtüftler Ralf Hütter, das einzige verbliebene Originalmitglied, machte sich nach ihrer 3D-Tour im vergangenen Jahr rar. Dass die einzige Deutschland-Show die Düsseldorfer in 2023 nach Karlsruhe führt, lässt sich auf die enge Freundschaft zwischen Hütter und dem langjährigen künstlerischen Vorstand des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM), Peter Weibel, zurückführen.
Ihr ist es zu verdanken, dass das Karlsruher Barockschloss an diesem gestrigen Abend zur gigantischen, nostalgischen Projektionsfläche zwischen Wirtschaftswunderzeit und Computerwelt mutiert. Ist das Gebäude im Rahmen der Schlosslichtspiele seit längerem einmal pro Jahr Schauplatz eindrucksvoller Visuals, so wird sie auch diesmal von 16 Hochleistungsbeamern auf einer 170 Meter breiten Fläche angestrahlt. Mal mit einem Zahlenmeer, mal mit einem über das gigantische Breitbild rauschenden Trans Europa Express.
Die geometrische Ästhetik der Band harmoniert von der ersten Sekunde an bestens mit der Geometrie des halbrunden Baus der Schlossflügel. Dem kann auch der pünktlich zu „Mensch Maschine“ einsetzende Regenschauer nichts anhaben. Die binnen 24 Stunden restlos vergriffenen 16.000 Tickets wurden schließlich mit dem Restrisiko eines Open-Airs gekauft.
Prägnanter als der kurze Schauer sind ohnehin die markanten Insignien der Albencover, die zur Ikone Kraftwerks genau so dazugehören wie die leuchtenden Anzüge der vier Mitglieder. Auf dem Balkon des Schlosses haben sie ihre wohl kleinste Bühne seit Jahrzehnten zur Verfügung. Dafür thronen sie so erhaben über dem Schlosshof, dass sie an den funkelnden Synthesizern auch noch aus den hintersten Reihen erkennbar bleiben.
Und nicht nur die Optik, auch die Melodien sind unverwechselbar, ob bei ihrem Klassiker „Autobahn“ oder dem von antiquierten PCs ausgeleuchteten „Computerliebe“. Es ist der Track, dessen geniale Melodie heute viele lediglich mit Coldplay verbinden, dabei sind die Düsseldorfer die Schöpfer und die Briten die Ehrerbieter.
Neben etlichen weiteren Klassikern, allen voran „Roboter“ und „Das Model“ ist es vor allem ihr vielleicht bestes Stück „Radioaktivität“, das nicht nur heraussticht, sondern eine ungewollte, aktuelle Brisanz mit sich bringt, wenn von Hiroshima über Tschernobyl bis Fukushima die mahnenden Beispiele atomarer Katastrophen über den Schlossplatz flackern.
Es ist eines der Kernstücke einer Show, die mit zunehmender Dauer lauter zu werden scheint und bei „Trans Europa Express“ und „Tour de France“ ihre Dezibel-Schmerzgrenze erreicht. Gerade zum Ende wird so aber auch immer deutlicher, warum Kraftwerk eben nicht nur die Pioniere des Techno sind, sondern auch deren Vollstrecker. Wenn zu den Zeilen „Let‘s Do Electric“ ein knüppel-dicker Bass aus den Lautsprechern hämmert, erlaubt das in der ganzen Stadt niemandem, vor 23:30 Uhr einzuschlafen.
Ob man will oder nicht, es macht „Boing Boom Tschack“, die vermeintlich so einfache Formel elektronischer Musik, die nie wieder diese Ursprünglichkeit besitzen wird wie bei Kraftwerk. Es gilt: „Music non stop, Techno Pop“, gepredigt von einem Balkon als Kanzel, unter der man im Stillen weiß: Diese Show hat Seltenheitswert, denn sie wird in diesem Ausmaß wohl einmalig bleiben.
Und dann ziehen sie sich zurück, einer nach dem anderen, nachdem jeder noch sein kleines Solo hatte. Zuletzt verbeugt sich Ralf Hütter vor den Karlsruhern. Dann verschwindet auch das letzte Originalmitglied Kraftwerks im Schloss.