„WIR WAREN HIER“. Zur Zeit scheint es sehr hip, alles in Kleinbuchstaben zu schreiben. Mit ihrem sechsten Album drehen Die Nerven den Spieß um. Der Albumtitel schreit förmlich in die Augen – wie alle Songtitel ausschließlich in Großbuchstaben.
Genauso laut und intensiv die ersten Takte von „ALS ICH DAVONLIEF“. Kurzes brachiales Aufbäumen, erinnert an manchen Math-Metal-Sound der 90er, bevor es losgeht. Monoton treibendes Stampfen ergänzt konstantes Noise-Knarzen.
„Keine Freunde, kein Empfang, bin ganz entspannt, keine Angst vor Konsequenzen, keine Nation, keine Grenzen“. „Auf der Flucht vor der Wirklichkeit ist mir kein Weg zu weit“. Jedes Wort brennt sich sofort bedeutungsschwer ein. Max Riegers Gesang eingängig, aber leichte Kost ist anders, ganz anders. „Ein Versprechen kann ich nicht geben, ich will nur ein neues Leben“. Dediziert eingestreute Eskalationen stellen sicher, dass alle wach bleiben.
„DAS GLAS ZERBRICHT UND ICH GLEICH MIT“ hält das eingestellte Unbehagen auf hohem Level. „Wir warten auf das Ende, dass es schleunigst eines gibt, wir nehmen die letzten Stunden, fetten Jahre gerne mit, warum hab ich Angst aber Du nicht“.
Die Apokalypse naht, eingepackt in schmeichelnden Gesang. In klassischer Handschrift entwickelt sich die weiche Matratze in einen kratzenden, ungemütlich anmutenden, dichten Sound-Teppich, um schlussendlich im Aufbäumen zu enden.
„WIR WAREN HIER“ packt den gepressten Müll auf dem Cover in die ganze Welt. „Für uns galten keine Regeln, …, wir haben uns verewigt, wie die Herren der Welt“. „keine Pflanze, kein Tier war so wertvoll wie wir“.
Die Hybris der Menschheit. Aber wir waren halt hier, es ist vorbei. Die heraufbeschworene Apokalypse hat stattgefunden. So desillusionierend der Text, so aggressiv der Sound. Zerrende Gitarren über gnadenlosen Drums, jedes Feedback wird mitgenommen. Max Riegers Stimme zwischen Wut und Verzweiflung.
Wüssten wir es nicht schon – spätestens jetzt wäre es nicht zu überhören. Diese Scheibe wurde nicht handwerklich aus verschiedenen Spuren zusammengesetzt. So eine perfekt eingespielte Entwicklung von Dynamik hin zu bahnbrechender Energie lässt sich nur im gemeinsamen Spiel entwickeln. Die Nerven haben „WIR WAREN HIER“ live in einem ehemaligen Restaurant eingespielt.
Weiter geht es als Wechselbad zwischen balladenhaften Tönen und ohrenbetäubend dichtem Noise. Gesang zwischen Romantik und herzzerreißender Verzweiflung.
„Immer besser, bessere Zahlen, da ist immer noch Luft nach oben, da ist immer noch Potential, ich bin mir ziemlich sicher man kann hier noch Prozesse optimieren. Ich will nicht mehr funktionieren“. … Ich hab mich nie weniger für eure ganze Scheiße interessiert.“
Nicht nur die Erde ist dystopisch zur Apokalypse gewirtschaftet. Um Mental Health in der kapitalistischen Gesellschaft steht es auch nicht viel besser. „ICH WILL NICHT MEHR FUNKTIONIEREN“. Frustrierte Kapitulation oder Ausbruch als einziger Ausweg?
Dem Untergang geweiht und selber schuld. Auf jeder Ebene. Klaustrophobische Beklemmung als Konstante aller zehn Tracks. Musikalisch dicht, abwechslungsreich und vor allem sehr organisch lebendig.
Die Nerven haben sich nicht unbedingt einen Namen für unbeschwerte Party-Musik gemacht. Mit “WIR WAREN HIER” setzten sie nochmal ordentlich einen drauf. Nicht nur inhaltlich. Das könnte ihr bisher bestes Album sein.