Derya Yıldırım gründete während ihres Musikstudiums aus einem Zufall heraus die Grup Şimşek. Seit der Gründung 2014 und den ersten Aufnahmen 2016 umgaben Keyboarder und E-Orgelspieler Graham Mushnik, Gitarrist Antonin Voyant und Schlagzeugerin Greta Eacott die Sängerin. Im Vorfeld des neuen Albums „Yarın Yoksa“ erzählte uns Derya, wie sich die Gruppe gründete und welche kulturspezifischen Einflüsse sie unverwechselbar macht.
MusikBlog: Derya, du hast eine Front-Rolle, auch weil du die einzige bist, die diese Sprache beherrscht, in der die Songtexte sind, Türkisch. Wie hat sich die Grup Şimşek geformt?
Derya Yıldırım: Wir sind in Hamburg zusammen gepuzzelt worden von Sebastian Reier für ein Festival des Schauspielhauses. Das Projekt war eigentlich ein Theaterprojekt, aber Musik hat auch eine große Rolle gespielt. Und Booty Carrell war der Kurator des Festivals. Damit Musik für das Theater eigens komponiert wird, hat er als Haus-Band Musiker*innen eingeladen, von denen er immer inspiriert war – das waren Graham Mushnik, Antonin Voyant und Greta Eacott. Sie alle waren damals in London, sind nach Hamburg gekommen, haben dann für zwei, drei Monate dort auch gewohnt. Und an einem bestimmten Abend des Festivals sollte sich ein Programm mit mir ereignen.
MusikBlog: Das heißt, die drei kannten sich vorher auch noch nicht ?
Derya Yıldırım: Doch. Sie kannten sich, sie waren auch Freunde und hatten schon miteinander gespielt.
MusikBlog: Somit seid ihr im Quartett als multinationale Band zusammen gewachsen. Ihr sprecht verschiedene Sprachen, Französisch, Englisch, Deutsch, Türkisch, ihr seid zentriert auf die Musik als Verständigungsmittel.
Derya Yıldırım: Ja, natürlich. (lacht) Wenn wir zusammen auf Tour sind und es sich dort ergibt, ist es eigentlich immer ganz schön, wenn wir gemeinsam über die Musik sprechen. Also vor allem, wenn es über die Text-Inhalte hinaus gehen darf. Es ist ja auch interessant zu erfahren, was die anderen beim Musikmachen denken.
MusikBlog: Die Liedtexte werden aber praktisch von den anderen nicht direkt verstanden. Oder hat sich das im Laufe der Zeit entwickelt und verändert? Haben die anderen Sprachkurse genommen?
Derya Yıldırım: Nun, Musik lässt sich in unterschiedlichen Formen definieren. Natürlich gehört die Sprache, also die Literatur oder die Poesie, als ein Element dazu. Und sie ist ein großer Teil, besonders in der anatolischen Musikkultur. Denn die alten Volkslieder sind im Grunde Gedichte, die zeitversetzt vertont wurden und die wir ja wiederum neu interpretieren. Musik wird praktisch von allen Menschen auf unterschiedliche Weise erfasst. Deswegen glaube ich schon, dass die anderen in der Gruppe das verstehen. Sonst würden wir ja nicht seit Jahren gemeinsam Musik machen können.
MusikBlog: Das leuchtet ein.
Derya Yıldırım: Aber gleichzeitig, weil die Texte ausschließlich auf Türkisch von mir gesungen werden, ist natürlich seitens der Öffentlichkeit das Interesse an den Worten groß. Der Inhalt ist durchaus essenziell. Deswegen wird er im Booklet immer ins Englische übersetzt. Eigentlich besteht also immer eine Art Transparenz. Sprache ist somit keine Barriere, sondern quasi eher ein Schatz, den jeder selber auf seine eigene Art und Weise entdecken kann, auch innerhalb der Band.
MusikBlog: Schön formuliert! Eines deiner großen literarischen Vorbilder heißt Mahzuni Şerif.
Derya Yıldırım: Ein türkischer Volksdichter, der auch in den Siebzigern in Köln gelebt hat, im Exil. Das war eine Zeit, wenn man das jetzt mal frei formuliert, als die Texte großen politischen Einfluss hatten.
MusikBlog: Er ist dafür sogar ins Gefängnis gekommen.
Derya Yıldırım: Genau, er wurde in der Türkei mehrmals inhaftiert. Wenn man die politischen Verhältnisse kommentierte, wurde man immer wieder mal für eine kurze Zeit inhaftiert. Die Verhaftungen dienten dazu, um ein Exempel zu statuieren. Um anderen zu zeigen: „Deine Kritik ist heikel.“. Aber auch im Gefängnis hat Mahzuni weiter Lieder geschrieben.
MusikBlog: Worüber schrieb er?
Derya Yıldırım: Volkslieder sind ja eigentlich auf der Welt ganz ähnlich. Es geht immer um die Themen, die das Volk betreffen, Gerechtigkeit, Menschlichkeit. Und über diese Themen schreibt er eben. Es ist nicht unnormal, dass Musik so eine große Kraft hat, um die Menschen zu mobilisieren und um die Meinung zu äußern und zu verbreiten. Das wird ja heute noch kontrolliert, an unterschiedlichen Orten.
MusikBlog: Wobei da die 1970er eine besondere Phase waren.
Derya Yıldırım: Eine Umbruchstimmung, sagen wir mal. In der Türkei war das eine chaotische Zeit, vor allem die Achtziger. Und deswegen haben auch ganz viele im Exil gelebt und versucht, zum Beispiel in Deutschland Fuß zu fassen. Man darf dabei nicht vergessen, dass Millionen von Platten hier verlegt und verkauft worden sind. Auch die Liedtexte, die von den Menschen handeln, die damals in Deutschland gelebt haben, haben dieses Deutschland-Türkei-Verhältnis behandelt.
MusikBlog: Und die Musik von damals wird wieder modern?
Derya Yıldırım: Es gibt eine Rückkehr der Popularität dieser Musik. Aber es gibt auch unterschiedliche Musik innerhalb der Türkei. Dort herrschen ganz verschiedene Präferenzen. Wenn du dort in den Achtzigern türkische folkloristische Musik gehört hast, warst du ein Buhmann. Für die Türk*innen und Kurd*innen in Deutschland war sie hingegen genau das, was sie am Leben gehalten hat, in ihrem Exil. Es gibt unterschiedliche Beweggründe, um sich dieser Musik zu nähern. Diese Kontexte muss man alle auf jeden Fall mit betrachten.
MusikBlog: Kannst du die Strömungen, wenn man von den Sechzigern bis in die Achtziger geht, zuordnen? Damit man grob eine Idee bekommt?
Derya Yıldırım: Es ist in den 1960ern dadurch etwas ganz Neues entstanden, dass noch viel Älteres, das nur mündlich überliefert wurde, am Leben gehalten und neu interpretiert wurde. Das gewann an Popularität, weil es etwas Magisches hat, sonst würden die Menschen das nicht feiern. Und durch den Inhalt der Volkslieder hat es etwas großes Politisches. Das war der Inhalt dieser Bewegung seit den Sechzigern. In den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten hat sich das weiter entwickelt. Es sind neue Richtungen entstanden wie etwa Arabesque und einiges mehr. In den letzten 10-12 Jahren kam die Rückkehr dieser Musik, die in den Sechzigern entstanden war.
MusikBlog: Du bist 1994 geboren. Wie ist es mit deinen Eltern? Ist es so, dass sie dir diese Musik vermittelt haben?
Derya Yıldırım: Ja, ich bin mit Musik aufgewachsen, ich war immer von Musik umgeben, wo auch andere Instrumente wie Oud, Klarinette oder Geige gespielt wurden. Ich war schon immer umgeben von Musikrichtungen aus der Türkei. Deswegen ist das, was ich mache etwas Hybrides aus Alt und Neu. Eigentlich muss man kein Zeitzeuge sein, um diese Musik zu fühlen und auch nicht, um sie umzusetzen.
MusikBlog: Verständlich.
Derya Yıldırım: Vielleicht gibt es in meiner Stimme Ähnlichkeiten, die man mit den alten Aufnahmen assoziiert. Ich bediene mich auch am Gesangsstil der Volksmusik.
MusikBlog: Obwohl ihr inzwischen viele Tour-Termine in Deutschland habt und auch in den Nachbarländern, seid ihr in einer Nische aktiv.
Derya Yıldırım: Die Musik wird, so glaube ich, bevorzugt von den Leuten gehört, die vielleicht aktiv im Retro-Bereich suchen, die sich interessieren für Musik, bei der irgendwie alte Instrumente benutzt werden. Es gibt seit ein paar Jahren einen Hype, alte türkische Musik zu spielen, die in den 1970er/80er-Jahren entstanden ist. Tausende DJs wurden durch diesen türkischen Psych-Sound bekannt, den sie auflegen. Ich weiß nicht, ob das deswegen ist, weil das Antike, sei es in der Mode oder anderswo, gerade als total toll gilt. Aber in der Musik sind diese Retro-Sounds ganz schön populär.
MusikBlog: Was kennzeichnet die ursprünglichen ‚alten‘ Bestandteile?
Derya Yıldırım: Ich versuche das mal zu beschreiben: Das basiert hauptsächlich auf türkischer Volksmusik, nicht nur, sie ist aber quasi die Basis. Denn damit haben die Musiker*innen damals in den 1960er/70ern versucht, sich aufzuwerten. Ich glaube, sie haben sich viel vom Westen inspirieren lassen.
MusikBlog: Von wem konkret?
Derya Yıldırım: Für viele waren The Beatles wohl die ersten Vorreiter. Dann, als die ersten Synthesizer entstanden, haben sie versucht, die Musik, die sie sowieso schon kennen, neu zu interpretieren. Mit neuen Instrumenten, wie mit einer Gitarre, die damals einfach nicht vorhanden war in der Türkei, die als ganz neues Instrument galt. Oder am Klavier. Dabei gibt es keine Harmonien in der türkischen Musik. Es gibt nur eine Melodie-Linie, und die wird von jedem gespielt.
MusikBlog: Das heißt, mit euch entdeckt man auch ein ganz anderes Ton-System?
Derya Yıldırım: Ja, durch den Einfluss des Westens wurden Harmonien unter die türkischen Volks-Melodien gelegt, und es ist etwas Neues entstanden, das die Menschen im 21. Jahrhundert total fasziniert. Wir können jetzt durch die Welt touren und den Leuten zeigen, was es noch für Sounds gibt auf der Welt.
MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.