Manche Bruce-Springsteen-Fans mögen es empfunden haben, wie wenn ein Sternekoch Fast Food-Ketten nachkocht, als der Boss 2022 Hit-Fabriken wie Motown und Stax coverte. Der Soul der Sechziger und Siebziger hatte es ihm auf seinem bislang letzten regulären Studioalbum „Only The Strong Survive“ leidenschaftlich angetan.

Auf „Tracks II: The Lost Albums“ gelten nun andere Prioritäten. Woody Guthrie-Folk gesellt sich zu lyrischen Rock’N’Roll-Vorbildern. Der Erfinder des Slogans „Born In The U.S.A.“ hüllt hier solche weiteren uramerikanischen Genres (jenseits des Souls) bevorzugt in sphärische Keyboard-Balladen. Daneben erklingen Kirchliches, Orchestrales, Latin-Töne und Americana mit Fiddle.

Sieben Teile umfasst die vollständige Fassung der „Tracks II: The Lost Albums“, die somit ein Box-Set ist und eine denkwürdige Archiv-Ausgrabung mit der Lieblingszahl 83.

83 Sekunden währt der kürzeste Tracks, und die 83 enthaltenen Tracks beginnen im Jahr 1983. Die jüngsten Aufnahmen entstanden 2019, die anderen 1993, 1995 und 2006, und von einem Teil ist die genaue Entstehungszeit nicht überliefert.

Eine verkleinerte Edition mit 20 ausgewählten Stücken versucht, es etwas einfacher zu machen, die Übersicht zu wahren. Andererseits erschließt sich das Komplett-Paket aus allen 83 Nummern durchaus rasch, selbst wenn man nicht ‚Springsteenologe‘ ist.

Den Anfang macht ein großes Sammelsurium aus einer Session, die insgesamt vertraut klingt, sofern man den Hit „Tougher Than The Rest“ im Ohr hat. Vieles spiegelt dessen Stimmung wider.

Inhaltlich kreisen die „L.A. Garage Sessions“ um Glücksuchende und Liebesverwirrte. Die Lyrik ist niedlich, erzählt mit Empathie. Der Höhepunkt „Fugitive’s Dream“ kombiniert Elektro-Orgel und Mundharmonika. Diese Aufnahmen entstanden im Zuge der Arbeit für das berühmte Album „Born In The U.S.A.“. Lediglich „My Hometown“ fand daraus jedoch Verwendung – in einer anderen Version als den beiden hier nachgereichten.

Um andere Perlen wie „Seven Tears“, „Johnny Bye-Bye“ oder die Song-Skizze „Little Girl Like You“ wäre es jedoch sehr schade, wenn sie der Welt weiter vorenthalten blieben.

Für die „Streets Of Philadelphia Sessions“ kann man durchaus den 1993er-Hit „Streets Of Philadelphia“ als Referenz anführen. Obwohl die Metropole im US-Osten der Staaten liegt, fanden die Aufnahmen in Los Angeles statt – so wie sich umgekehrt die Sessions für den Soundtrack zum nie gedrehten Western „Faithless“ gerade nicht im Wilden Westen, sondern in Florida abspielten.

Inmitten der Philadelphia-Lieder muss man nach Favoriten gar nicht lange suchen. Dazu gehören das Abschieds- und Trennungslied „We Fell Down“, die Tasten-Ballade „One Beautiful Morning“, das sphärische „Between Heaven And Earth“ und das so charismatische wie sehnsuchtsvoll vorgetragene „Blind Spot“ im Trip-Hop-Rhythmus. Die Drum-Machine gesellt sich dort zur gleißend gezupften E-Gitarre, der Boss schmachtet in Bestform.

Die Inspiration dazu wurzelt in der Neugier Springsteens auf Hip-Hop. Gleichwohl ging er trotz Fertigstellung nie den Schritt der Veröffentlichung. Denn lieber war ihm Mitte der 1990er, seine inaktive E Street Band wieder zu beleben. Die „Streets Of Philadelphia Sessions“ dienten ihm hingegen mehr dazu, sich solo auszuprobieren.

Dabei hätte ein Tune wie „Waiting On The End Of The World“ in den Neunzigern als radiotauglich gegolten und gewiss als Hit Karriere gemacht. Umso mehr kann man rätseln, weshalb diese Aufnahmen dann derart konsequent unter Verschluss blieben.

Vergleichsweise rustikale Angelegenheiten sind der Zyklus „Somewhere North Of Nashville“ von 1995 oder gar die „Faithless“-Sessions des Jahres 2006, die so wirken, als möchten sie sich an den Appalachen-Heimatverein wenden.

Kurios wird es im Verlauf dieses „Faithless“-Liederreigens dann noch mit Springsteen als Gospel-Lead-Sänger, umringt von einem Chor (Ada Dyer, Lisa Lowell, Michelle Moore) im Dienste himmlischer Mächte in „Let Me Ride“. Gläubig blicken „God Sent You“ und „My Master’s Hand“ in Richtung des Allmächtigen. Mehrere Instrumentals unterschiedlicher Kreativität und Güteklasse machen den Bezug zu einem Soundtrack deutlich.

Wenn der Rock-Singer/Songwriter im Rahmen der „Twilight Hours“-Partie, Baujahr 2019, eine knappe Stunde lang in malerischem Easy Listening versinkt, dann dürfte das einige aus der Starkstrom-Fan-Fraktion verprellen. Zwar macht sich der Boss seine Ausdrucksstärke zunutze, bietet Reibeisen-Gesang, Belcanto-Stilmittel und Vibrato-Timbre auf. Seicht hört sich ein Geigen-Lied wie „Another You“ trotzdem an. Soozie Tyrell streicht den Bogen.

Ob man eine Art Chris Rea im Muscle-Shirt, einen Neil-Diamond-Verschnitt in Lederjacke oder den politisch aktiven Musiker Springsteen als neuen Burt Bacharach wirklich herbei gesehnt hat? Interessant ist es allemal, Springsteen entlang einer Hawaii-Gitarre in „Sunliner“ zu vernehmen, mit Orchester im epochal monströsen „Lonely Town“ oder als Crooner im dunkel-romantischen „September Kisses“ zwischen zig Holzinstrumenten.

„Dinner At Eight“ und „Follow The Sun“ sind sogar wahre Singalong-Perlen, die sich trotz Orchester Leichtigkeit bewahren. Bei so vielen Liebesliedern besteht trotzdem die Gefahr der Vorhersehbarkeit oder gar Einseitigkeit. Insgesamt laden all die Stücke durchweg mehr zum Mitschunkeln ein, als dass sie mal wirklich ein Stadion zum Beben brächten.

Wer die feurige Seite des Musikers mag, bekommt sie nur in magerer Dosierung zu spüren und muss flexibel sein. Immerhin, „Idiot’s Delight“ und „Another Thin Line“ führen mal feinsten Heartland-Rock auf. Für das bis dato nie erschienene Reise-Album „Inyo“ ließ sich der Meister des Lebensgefühls der amerikanischen Arbeiterklasse derweil von mexikanischer Folk-Musik bezirzen. Er adaptierte Latino-Spielarten.

83 Songs sind eine beträchtliche Masse, wenn man bedenkt, dass Springsteen regulär gerade mal 88 Album-Tracks durch die Siebziger und Achtziger Jahre hindurch veröffentlichte, im gesamten Zeitraum von seinem Debüt 1973 bis einschließlich „Tunnel Of Love“ 1987. Hier herrschte seitens der Plattenindustrie also das Prinzip der Verknappung.

Das pseudo-neue Material zeigt Mister „Hungry Heart“ nun von recht verschiedenen Seiten und belegt, dass wohl allzu oft der Mut fehlte, spleenige Ansätze zuende zu verfolgen und sie den Fans zuzutrauen. Selbst, wenn diese gefundenen „Lost Tracks“ stellenweise ins Kitschige zu kippen drohen: Gute Musik ist hier allemal reichlich dabei.

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