Würden die Eurythmics „There Must Be An Angel (Playing With My Heart)“ im Jahr 2025 schreiben, käme wahrscheinlich so etwas wie der Song „Digital Fantasy“ von Marina Diamandis dabei heraus. Die 39-jährige Keyboard-Pop-Autorin mit griechischen Wurzeln durchwandert als lyrisches Ich die Hochs und Tiefs ihrer zweiten Pubertät und tauft ihre Figur „Princess Of Power“ – mit Betonung auf den euphorischen Höhenflügen von Selbsterkenntnis, Selbstermächtigung, Selbstliebe, Selbstbefreiung.

„Been living life locked up in tower / but now I’m blooming like a flower“, so sitzen die Stab- und Stammsilben-Reime im Titeltrack und untermauern: Die „Princess Of Power“ schwimmt sich frei vom Ex, erkämpft sich mit durchdringenden Gesängen, schillernden Metaphern, Wandlungsfähigkeit, Schwung und Aufbruch ihre Freiräume, ihr Revier.

Stilistisch tritt die Power dabei auch in Form von Power-Pop zutage, sobald das Stakkato der harten Single „Cuntissimo“ verklungen ist.

Im feurigen Elektro-Wirbel vom „Cupid’s Girl“ übersetzen die Synth-Effekte einen Teil der Lyrik, während Marinas Stimme zwischen Vertrauen und Verführung schwebend Gipfel erklimmt. Bevor der Track an Fahrt zu verlieren droht, reißt er lieber überraschend ab, ist schlank produziert.

„Everybody Knows I’m Sad“ handelt derweil zwar von Traurigkeit und Einsamkeit, verpackt aber die schonungslose Konfrontation mit sich selbst als mitreißende Kraft-Quelle. Marina eignet sich als Trost spendende Begleiterin für Menschen, bei denen das Liebesleben nicht rund läuft und die sich mit ihrer Misere auch gegenüber Freund*innen nicht öffnen, sondern lieber die Decke über den Kopf ziehen, so wie die Antiheldin im besagten Song.

Meist zeigt sich das Album bei fortgeschrittenem Tempo. Einzig „Hello Kitty“ dreht als ruhiger Song die Schlagzahl herunter. Ansonsten legt die Britin lieber stampfend Disco-Beats vor, wie im Titellied.

Während ein Vocoder die späten Siebziger, frühen Achtziger in „Digital Fantasy“ zitiert, setzt sich das Lied inhaltlich mit der doppelten Ebene von Verführung im App-Zeitalter auseinander, in dem viele Gefahren vom betrügerischen Scamming übers warm haltende Breadcrumbing bis zum brutalen Ghosting lauern. Auf der einen Ebene wird Fake-Identitäten geglaubt, auf der anderen reicht manchen Usern eine digital gestützte Fantasie als Kick für den Augenblick.

Mit solchen Problemen hatten Annie Lennox und Dave Stewart vor 40 Jahren nicht zu kämpfen. Marina jedoch erzählt aus einer anderen Perspektive, „stuck in a loveless generation / ready to go through a transformation“.

In künstlerischer Raffinesse tänzelt sie mit ihrer Stimme durch Sopran, Mezzosopran, Micky-Maus-Tonlage, gurrende Alt-Stimme. Immer wieder zückt sie eine andere Oktave, um wie ein Alter Ego zu kommentieren, was sie gerade in der Zeile zuvor gesagt hat.

Dieser Effekt nutzt sich auf Album-Länge genauso wenig ab wie das Stilmittel der direkten Fragen „Where are all the parties now?“ „Is there something you like?“, die sie in „I <3 You“ mal an ein imaginiertes „you“, mal an sich selbst und manchmal frontal an die Hörer*innen richtet.

Dass manche Phrasen das Niveau mancher Teenie-Influencer-Blogs unterschreiten und nicht durchweg gute Vorlagen für die edle Gesangstechnik der Singer/Songwriterin sind, macht Marina trotzdem mit ihrer emotionalen Ausdruckskraft wett.

Von ihren subtilen musikalischen Unterströmungen wie New Wave und Soul des Debüts vor 15 Jahren zeigt sich zwar kaum mehr etwas. Doch gleichzeitig kommt die Waliserin ihren Ursprüngen viel näher als auf ihren jüngsten Alben.

Wenn sie in „Je Ne Sais Quoi“ an Christine And The Queens erinnert, liegt das nicht nur am Französischen, sondern auch an Gemeinsamkeiten im Umgang mit Synthie-Pop-Wurzeln.

Besonders berührt Marina, wenn in „Digital Fantasy“, „Everybody Knows I’m Sad“ oder „Adult Girl“ schmerzhafte oder ambivalente Erkenntnisse breiten Raum einnehmen und die Ich-Figur teils süffisant erzählt, welche falschen Annahmen sie traf und welche Folgen das hatte.

„Princess Of Power“ ist zwar durch und durch Pop, aber dennoch keineswegs flach. Es ist ein ehrliches Werk vertonter Psychologie. Mancher Schliff hätte hier und da nicht geschadet – hat man sich jedoch über die plakativeren Singles mal hinaus gearbeitet, erwarten einen die wahren Perlen der Platte.

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