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Die Poesie der Natur im elektronischen Gewand – Yann Tiersen im Interview

Yann Tiersen (Credit Annett Bonkowski)Das Reisen ist eine der großen Leidenschaften des französischen Multi-Instrumentalisten Yann Tiersen, den es für die Arbeit an seinem neuesten Album “Infinity” unter anderem in die raue und imposante Schönheit Islands zog. Es ist bereits das achte Mal, dass der Komponist auch seine Hörer mit einem Studiowerk mit auf seine ganz individuell gestaltete Reise nimmt. Ein Avantgardist war er schon immer. Das bezeugen auch die neuen Stücke, deren Inhalte eng mit der Natur verbunden sind und sich klanglich zwischen akustisch-folkigen Impulsen und elektronisch-mystischer Harmonie bewegen. MusikBlog traf den kreativen Kopf hinter Soundtracks wie “Die fabelhafte Welt der Amélie” und “Good Bye, Lenin!” im frühlingshaften Berlin zu einem Gespräch über Unendlichkeit, Sound-Manipulationen sowie sein enges Verhältnis zur Natur.

MusikBlog: Du hast dein neues Album auf den Namen “Infinity” getauft. Hat die Unendlichkeit eine besondere Bedeutung für dich oder spielt sie gar eine größere Rolle in deinem Leben?

Yann Tiersen: Anfangs habe ich mich schwer getan einen passenden Albumtitel zu finden. Ich war sogar schon soweit es einfach dabei zu belassen keinen Titel für die Platte zu haben. Jedenfalls bis ich mir darüber im Klaren wurde, dass es mein insgesamt achtes Studioalbum ist. Wenn man die Zahl ein wenig dreht, sieht es so aus als würde man das Unendlichzeichen vor sich haben. Es hat daher Sinn gemacht diesen Albumtitel zu wählen.

MusikBlog: So einfach ist das also!

Yann Tiersen: Ja, dieses Mal war es ganz simpel (lacht)! Obwohl das Album dahingehend schon eine Art Konzept beinhaltet, wenn man den Begriff näher beleuchtet und auf die Songs bezieht. Dennoch sind es manchmal solch kleine Erkenntnisse, die zu einer Entscheidung hinsichtlich der Namensgebung führen.

MusikBlog: Ist die Vorstellung von Unendlichkeit vom kreativen Standpunkt her gesehen essenziell für dich als Kunstschaffender?

Yann Tiersen: Ganz allgemein gesehen ist sie das auf jeden Fall. Meine Arbeitsweise lebt von Zufällen und unerwarteten Eingebungen, die ich mir am liebsten bis in alle Ewigkeit bewahren möchte. Für dieses Album war der Entstehungsprozess vielleicht sogar noch mehr davon beeinflusst. In der Vergangenheit haben diese Dinge eine nicht so entscheidende Rolle gespielt. Dieses Mal beinhaltete der ursprüngliche Plan, dass ich meine Ideen zunächst akustisch Schicht für Schicht aufnahm, um sie anschließend klanglich zu etwas Neuem zu transformieren. Etwas Elektronischerem, das sich durch alle Songs zieht. Fast schon wie eine recycelte Version oder eine Art Remix, die beide ganz im Sinne der Unendlichkeit Altes aufgreifen und etwas Neues daraus entstehen lassen. Sozusagen eine klangliche Wiederkehr mit neuen Impulsen.

MusikBlog: Bis zu welchem Grad hast du die anfangs akustischen Sounds denn nach deinen Wünschen umgeformt bzw. manipuliert und so Stück für Stück den gezielten Effekt eines elektronischeren Klangmusters erzielt?

Yann Tiersen: Ich hatte zunächst etwas Bedenken mich während dieses Prozesses der Verschmelzung von analogen und digitalen Klängen vielleicht zu sehr auf den technischen Aspekt zu konzentrieren. Da ich aber lieber der Musik anstelle des digitalen Mediums einen größeren Platz einräumen wollte, habe ich mich bewusst dafür entschieden meine Sachen zu packen und nach Island zu gehen. Inklusive eines Koffers voller Kinder-Instrumente unter denen vor allem viele Glocken waren. Über einen Zeitraum von zwei Wochen begann ich anschließend meine Ideen aufzunehmen und kehrte danach mit vierzehn Songs zurück. Die einzige Regel dabei lautete: “Benutze alles, was dir zur Verfügung steht”. Ein paar der Songentwürfe waren ziemlich schlecht! (lacht)

MusikBlog: Inwiefern würdest du sie als schlecht bezeichnen?

Yann Tiersen: Es klang teilweise wie ein schlechter Soundtrack für die Weinachtszeit! Vermutlich, weil die Songs auf der Basis der Kinder-Instrumente entstanden waren, womit auch immer etwas Naivität in den Ideen mitschwang. Trotz dieser weniger erfolgreichen Entwürfe fand ich es spannend diese so zu manipulieren, dass dabei am Ende etwas Brauchbares herauskam. Ich habe 1-2 Monate damit verbracht vor dem Laptop zu sitzen und an Knöpfen herumzudrehen, um dieses Material in Songs zu verwandeln. Das mag vielleicht langweilig klingen, aber hat mir unheimlich viel Freude bereitet. Mir hat die Vorstellung gefallen von dieser Basis ausgehend alles Mögliche mit den verschiedenen Klängen anstellen zu können. Erst im Zuge dessen habe ich mich dazu entschieden jedem Song auch noch Instrumente wie Violine, Mandoline oder Gitarre hinzuzufügen. Jeden Tag knöpfte ich mir einen Song vor und machte mich an die Arbeit diesen Spur um Spur mit weiteren Instrumenten so zu füttern bis eine ganze Reihe an verschiedenen Schichten vorhanden war. Es war gleichzeitig seltsam und wirkungsvoll die Songs so wachsen zu sehen.

MusikBlog: Was war für dich das Aufregendste daran die Songs so auf den Kopf zu stellen und die verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten in dieser Form auszureizen?

Yann Tiersen: Das eigentliche Spielen der zahlreichen Instrumente und damit das Schaffen der klanglichen Grundlage für das Album war im Vergleich zum folgenden Transformationsprozess eher langweilig für mich. So richtig spannend wurde es erst, als ich das ganze Material nach Belieben am Computer bearbeitet habe. Vielleicht gerade deswegen, weil das normalerweise nicht meine klassische Arbeitsweise ist. Ich saß Stunden vor dem Bildschirm und wurde nicht wirklich müde neue Ideen auszuprobieren.

MusikBlog: “Infinity” vereint seiner Form nach sowohl das Abstrakte als auch das Reale. Hat die Erfahrung mit diesem Album mehr Abstraktkeit in deinem Werk zuzulassen Spuren bei dir hinterlassen, was deine zukünftige Arbeit angeht?

Yann Tiersen: Ich schätze, ich bin mit meiner Musik mehr und mehr auf der Suche nach den eher abstrakten Dingen. Gerade mit diesem Album konnte ich mich wieder ein Stück weiter nach vorne wagen, was das angeht. Das wird sicherlich auch Auswirkungen auf meine nächste Platte haben, bei der ich gerne auf ähnliche Art und Weise vorgehen möchte. Die Aufnahme meiner Umgebung soll dabei im Mittelpunkt stehen und vielleicht werden sogar gar keine weiteren Instrumente vorhanden sein. Das ist eine wunderbare Entschuldigung, um einfach auf Reisen zu gehen! Es ist also durchaus denkbar, dass der Grad an Abstraktheit in meiner Musik noch weiter zunimmt, wobei ich sagen muss, dass ich auch die musikalischen Momente, die näher bei der Realität liegen, sehr schätze.

MusikBlog: Es klingt fast so, als hättest du die Arbeit am Nachfolger von “Infinity” zumindest gedanklich begonnen und wärst dabei einen konkreteren Plan auszuhecken.

Yann Tiersen: Das stimmt! Seltsamerweise war der Entstehungsprozess von “Infinity” so reibungslos, dass ich mich gedanklich schon wieder auf das nächste Projekt einlassen kann.  Ich glaube bisher ist mir die Arbeit noch nie so leicht gefallen wie bei den neuen Songs. Es war beinahe schon erschreckend einfach, wenn ich an diese Zeit zurückdenke. Am Anfang hatte ich noch nicht einmal den Eindruck überhaupt zu arbeiten, wenn man es denn so bezeichnen möchte. Ich habe mich keineswegs gelangweilt, aber war doch so sehr entspannt, dass ich mich nicht unter Druck gesetzt gefühlt habe. Ich bin mir rückblickend nicht so sicher, ob es ein gutes Gefühl ist, wenn ich ständig denke gar nicht so viel zu machen, aber in diesem Kontext hat es zumindest funktioniert. Normalerweise arbeite ich immer sehr schnell und stelle ein Album schon nach kurzer Zeit fertig. Dieses Mal war alles anders und es hat sich viel länger hingezogen. Es war geradezu ein schleichender Prozess, was jedoch nur für die Dauer und nicht für die eigentliche Produktivität während dieser Zeit gilt.

MusikBlog: Ein Großteil des Albums ist in Island entstanden. Wie war es für dich während der Aufnahmen der dortigen Naturgewalt mit all den imposanten Landschaften gegenüberzustehen und diese Eindrücke in Klanglandschaften zu übertragen?

Yann Tiersen: Obwohl die ersten Versuche in Reykjavik teilweise nicht so gut liefen, fühlte ich mich von der Umgebung sehr fasziniert. Das kommt auch überall auf dem Album zum Ausdruck, denn schließlich ist die Natur als solche unheimlich präsent. Ich weiss nicht warum, aber je mehr Alben ich aufnehme, umso mehr habe ich das Gefühl, dass ich hinaus in die Natur muss, um überhaupt voranzukommen. Der Ausgangspunkt liegt für mich nicht in einem geschlossenen Raum, sondern z.B. in der Weite einer Landschaft. Irgendetwas zieht mich raus ins Freie. Manchmal denke ich, dass all die Meldungen über die globale Erderwärmung mich schon völlig paranoid gemacht haben, so dass ich ständig in die Natur muss. Ich liebe es in der Stadt zu sein, aber könnte niemals darauf verzichten etwas mehr Weitblick dieser Art zu genießen. Ich komme mehr und mehr dahin, dass ich mich wieder als Mensch fühlen möchte, der ein Teil dieses natürlichen Lebensraumes ist.

MusikBlog: Heutzutage geschieht es eher selten, dass sich der Mensch bewusst zurücknimmt, um sich längere Zeit in einer natürlichen Umgebung aufzuhalten. Welche Auswirkung hatte es für dich so zurückgezogen deiner Arbeit nachzugehen?

Yann Tiersen: Ich habe während dieser Zeit festgestellt, dass ich auf diese Weise viel konzentrierter arbeiten kann als anderswo. Draussen in der Natur hört man viel tiefer in sich hinein und blendet die unwichtigen Dinge um einen herum schneller aus, was zur Folge hat, dass man sehr wahrscheinlich effektiver an das persönliche Ziel gelangt. Das konzentrierte Arbeiten macht bei einem so großen Projekt sehr viel aus. Es ist so wichtig, dass man sich zumindest ab und zu bewusst ins Gedächtnis ruft, was es heisst zu leben. Und das im elementarsten Sinne.

MusikBlog: Hast du dich schon immer für die Schönheit der Natur begeistern können?

Yann Tiersen: Ja, ich glaube das war schon immer so, auch wenn ich mich als Stadtmensch bezeichnen würde. Dennoch hat mich die Natur schon immer fasziniert und ich fühle mich gerade seit ein paar Jahren noch stärker zu ihr hingezogen. Ich weiss aber auch, dass ich nicht dafür geschaffen bin mein ganzes Leben so abgeschieden zu verbringen.

MusikBlog: Die Songs auf “Infinity” werden neben Isländisch auch von bretonischen sowie färöischen Stimmen begleitet. Was war der Auslöser dafür nicht eine einzige über der Musik schwebende stimmliche Konstante in den Songs zu schaffen?

Yann Tiersen: Ich komme aus der Bretagne, wo lange Zeit das bretonische Vokabular zugunsten von der französischen Sprache unterdrückt, ja sogar untersagt war. Folglich war die Sprache fast tot. Meine Großmutter sprach noch Bretonisch, aber vieles ging über die Zeit verloren, so dass nicht einmal mehr meine Mutter die Sprache lernte. Geschweige denn ich selbst. Dabei fasziniert mich die Sprache sehr und ich beginne nun langsam sie mir anzueignen, weil es eine so schöne Sprache ist. Genauso geht es mir mit Sprachen wie Isländisch oder der färöischen Kultur, die ich beide sehr reizvoll finde. Ich möchte Sprachen wie diese wieder aufleben lassen, weil sie viel zu selten die nötige Aufmerksamkeit bekommen.

MusikBlog: Ist das Spiel mit der Sprache ebenso interessant für dich wie das Herumexperimentieren mit Musik?

Yann Tiersen: Beide Gebiete bergen so viel Freiräume, dass mir die Idee sehr gefällt weder in der Musik noch auf sprachlicher Ebene nur eine Richtung zu verfolgen. Zwar bin ich in sprachlicher Hinsicht mehr auf die Hilfe anderer angewiesen, weil ich selbst nicht Isländisch etc. spreche, aber ich mag die Vorstellung mich auch dort nicht festlegen zu müssen.

MusikBlog: Thematisch kreisen die neuen Songs oftmals um Mineralien und Gesteine. Was hat es damit auf sich?

Yann Tiersen: Dort, wo ich wohne, gibt es kaum oder nur sehr wenige Bäume. Dafür aber allerhand Gesteine. Da ich mich schon längere Zeit mit den Auswirkungen des Menschen auf die Natur beschäftige und mich der Gedanke daran oftmals erschreckt, erschien es mir sinnvoll Songs über etwas Solides wie Steine zu schreiben! Ich würde aber nicht soweit gehen und behaupten, dass ich von diesen Dingen besessen wäre. Es steckt auch nicht hinter jedem Song eine tiefgründige Erklärung für dessen Inhalt oder den Bezug zu den genannten Mineralien etc, aber in der Gesamtheit aller Lieder ergibt dieser thematische Fokus eben einen Sinn.

MusikBlog: Ist an dir eigentlich ein kleiner Umweltschützer verlorengegangen? Der ökologische Fußabdruck ist immerhin gerade für häufig reisende Musiker mittlerweile ein Thema geworden.

Yann Tiersen: Ich würde mich nicht als völlig “grün” bezeichnen, aber ich versuche natürlich schon so gut es geht darauf zu achten nicht unnötig Spuren in der Natur zu hinterlassen. Ich benutze daher häufig öffentliche Transportmittel oder fahre mit dem Rad und mache mir Gedanken um die Zukunft.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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