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Die Sterne – Flucht in die Flucht

Teil der Hamburger Schule zu sein, Gründungsmitglied sogar, ist manchmal ein Dasein voller Missverständnisse. Man wird über einen Kamm geschoren, der ziemlich unterschiedliche Zacken hat. Es werden konkrete Weltverbesserungsstrategien unterstellt, die unter Jugendlichen nicht selten Ausdruck schlichter Aufsässigkeit waren. Und dann die Frage der Konsistenz: Gab es das überhaupt jemals – eine Schule, ein einheitliches Gebilde, stilistische Klammern? Frank Spilker ist es leid, all dies noch zu kommentieren. Eher gelassen als genervt zuckt er mit den Achseln, wenn ihm die musikalische Lehranstalt mal wieder als Grundlage seiner Band untergejubelt wird.

Die Sterne heute, sagt der Sänger, Texter, Gitarrist dann, das habe durchaus mit den Neunzigern zu tun, den frühen vor allem, als mit „Wichtig“, „In echt“ und „Posen“ Manifeste neuer deutscher Klangklugheit entstanden sind. Die Sterne heute allerdings, das sei besonders dies: „Flucht in die Flucht“. Das neue, allen Ernstes schon zehnte Album. Denn die Sterne generell, das sind allesamt Hybride aus Tradition und Fortschritt. Wer genau hinhört, findet in jedem einzelnen Album seit 1993 den tiefen Hang zum Groove, das grundsätzliche Bekenntnis zum Rock, die feine Affinität zur Verschrobenheit, die punktuelle Abkehr vom Pop. Wer jedoch noch genauer hinhört, entdeckt zumindest in der Spätphase jedes Mal aufs Neue etwas anderes: Inklusionen.

War es auf dem Vorgänger „24/7“ technoider Disco, so ist es diesmal eine Art Psychobeat, der da durch die meisten der zwölf Stücke weht. Ein orgeldurchpeitschtes, saiten-jaulendes, stimmhalliges Mollsound-Kompendium mit gewohnt diskurspoetischen Texten. Da schreien die Gitarren, als Spilker vom „inneren Reichsparteitag“ spricht, den er „menschen-verachtend verliebt“ veranstaltet. Da schreien sie noch lauter, als er seiner gentrifizierten Wahlheimat in „Miese kleine Winterstadt“ den Protestmarsch bläst. Und wenn ihm St. Pauli mal wieder so richtig auf den Geist fällt, wie es 2002 auf „Irres Licht“ hieß, müssen die Verzerrer 2014 richtig ackern.

Solche Einflüsse artverwandter, aber doch abgewandter Stile wehen dem zum Trio geschrumpften Quartett angeblich in den Übungsraum wie ein frischer Wind. Es sind Ausflüge, Abzweigungen, Experimente. Aber mit der sozialen Intelligenz eines Frank Spilker und seiner politisch höchst bewussten Mitmusiker wird eben jeder Umweg letztlich zur Richtungsentscheidung – und sei es auf Zeit.

Zum Kommentar der Verhältnisse, die sich musikalisch entweder hermetisch geben wie das Sektierertum einzelner Genres. Oder bis zur Blödheit durchlässig wie billiger Hitparadenpop. „Flucht in die Flucht“ will weder keinen noch alle rein lassen. Es sondiert die Möglichkeiten urbanen Independents deutscher Sprache in all seinen Ecken. Produziert vom versierten Olaf O.P.A.L. ist dabei ein Psycho-Album herausgekommen, das sternenfern und doch Sterne pur ist. Man muss sie schon mögen. Dann aber wirkt es. Auch Missverständnissen vor.

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