Es geht um das Warten auf Veränderungen – Tindersticks im Interview

Seit 25 Jahren beglücken uns die Tindersticks mit ihrem melancholischen Chamber-Pop. 10 Studioalben hat die Band bisher veröffentlicht sowie unzählige Soundtracks. Morgen erscheint nun ihr 11. Longplayer „The Waiting Room„. Zeit, sich mit Bandleader Stuart Staples über das Album zu unterhalten, die Veränderungen in der Musikindustrie sowie, was es eigentlich mit dem ominösen Eselskopf auf dem Cover auf sich hat. Da Herr Staples und auch wir sehr busy sind, haben die lieben Kollegen von City Slang kurzerhand für uns mit Stuart gesprochen.

Interviewer: Tindersticks gibt es mittlerweile seit fast 25 Jahren. Was hat sich seitdem in der Musikbranche verändert?

Stuart Staples: Im Bereich des A&R hat sich vieles geändert, diese Abteilung ist so gut wie nicht mehr existent. Heute gibt es nur noch Manager, Künstler und Label, die als eine Art Dienstleister fungieren. Wenn Bands entstehen, die über etwas sehr Besonderes verfügen, dann ist es mittlerweile sehr schwierig geworden, an dieser musikalischen Besonderheit festzuhalten. Ich war kürzlich mit Jenny von Savages und Conor von Villagers auf einer kleinen Tour, und da wurde mir wieder klar, dass man den Drang, Musik zu machen, nicht künstlich erzwingen kann, nur weil man da Lust drauf hat. Man kann nicht einfach zu einem tollen Sänger werden, denn diese Fähigkeiten kommen aus deinem tiefsten Inneren. Mit der Zeit lernt man zwar, wie das Business funktioniert und wie man mit bestimmten Dingen umgehen muss, aber dieser Funke, Musik zu machen und etwas zu erschaffen, muss einfach in dir sein.

Interviewer: Es gibt zu dem Album auch einen Film. Wie entstand die Idee dazu?

Stuart Staples: Die Idee zu den Filmen kam mir, als ich Teil der Jury des Clermont-Ferrand Kurzfilm Festivals war. Am Ende hatte man dann das Gefühl, an vielen verschiedenen Orten gewesen zu sein und viele neue Ideen präsentiert bekommen zu haben. Ich erkannte, dass es eine Kunst ist, diese Filmrollen zusammenzustellen. Ich unterhielt mich darauf hin mit Calmin Borel, dem Leiter des Clermont-Ferrand Film Festivals, und daraus entstand die Idee, während einer Albumproduktion Filme in Auftrag zu geben, Regisseure auszuwählen und zu jedem Stück einen Kurzfilm zu erstellen, um diese Art filmischen Flickenteppich dann selbst zu kuratieren und die Balance dieser Reise herauszuarbeiten.

Interviewer: Glaubst du, dass die Songs sich verändern, wenn man die Videos dazu schaut?

Stuart Staples: Ich glaube, das wird eine interessante Sache werden. Wir spielen demnächst Jahr einige Konzerte, unter anderem in Berlin an der Volksbühne, untermalt von den Filmen, aber dann spielen wir den Rest der Tour ohne sie. Ich möchte nicht immer diese Bilder anschauen müssen. Die Leute auf unseren Konzerten haben oft die Augen geschlossen, und auch ich singe meine Songs mit geschlossenen Augen, denn ich möchte meine eigenen Geschichten verfolgen können. Dennoch finde ich diese zusätzliche Dimension toll. Dennoch bin ich der Meinung, dass die Musik nicht daran gekettet sein darf. Musik ist Musik. Und diese Musik hat zwar jene Filme inspiriert, aber man kann sie auch jeder Zeit davon losgelöst hören, um sich von ihr forttragen zu lassen.

Interviewer: Du hast gesagt, dass ihr euch bei diesem Album zum ersten Mal wirklich wie eine fünfköpfige Band gefühlt habt. Warum?

Stuart Staples: Als wir anfingen, gab es eine Originalbesetzung, die sich dann langsam aufgelöst hat. Man trifft also neue Leute, deren Art zu spielen und Musik zu machen einem gefällt, aber das bedeutet nicht, dass man automatisch mit diesen Menschen zu einer Einheit verschmilzt und zu einer Band wird. Im Laufe der letzten drei Alben haben wir uns langsam wieder in diese Richtung entwickelt, und mit der neue Platte haben wir jetzt den Punkt erreicht, wo wir wieder zu einem festen Gefüge zusammengerückt sind und jeder von uns seinen Platz gefunden hat. Wir sind wieder eine Band – mehr als je zuvor, würde ich sage. Es geht nicht nur darum, mit jemandem zu spielen, der die Drums oder den Bass sehr gut beherrscht. Es geht um viel mehr, nämlich um das tiefe Verständnis dessen, was wir gemeinsam musikalisch erreichen wollen.

Interviewer: Was bedeutet das konkret für dieses Album?

Stuart Staples: Da gibt es viele Beispiele. Am deutlichsten wird das, wenn du eine Idee an eine Gruppe von Leuten weitergibst und siehst, was dann damit passiert. Es gibt auf dem Album ein Stück namens „Help Yourself“, das ich zunächst allein entworfen habe. Ich war gerade dabei, einen anderen Song aufzunehmen und hatte meine Gitarre ans Mischpult gelehnt. Sie war noch immer angeschlossen und ich fing an rhythmisch auf ihr herumzuklopfen. Das klang gut, also nahm ich es auf. Ich baute einen Loop daraus, nahm meinen Bass, und so entstand eine flüchtige Skizze des Songs. Eine Woche später spielte ich der Band die Aufnahme vor, und eine Stunde später hatten wir diese Version von „Help Yourself“ ausgearbeitet. Das war wie eine Explosion. Alles passte. Bei dem Filmprojekt war das ähnlich. Man gibt einen Song, wie etwa „We Are Dreamers“, an einen interessanten Regisseur – in diesem Fall war das Gabriel Sanna in Sao Paulo – und dann bekommst du diesen großartigen Film zurück. Der kreative Dialog während dieser Albumproduktion war einfach fantastisch.

Interviewer: Aber es ging dir schon darum, neue musikalische Ausdrucksformen zu finden, oder?

Stuart Staples: Auf jeden Fall! Man versucht immer, seine Grenzen zu erweitern. Jeder Song auf diesem Album hat Elemente, die über unser bisheriges Schaffen hinausgehen. Es gibt kein Stück, das nicht etwas Neues ausprobiert. Das ist das Aufregende daran.

Interviewer: Das Album heißt “The Wating Room”, wartest du auf etwas?

Stuart Staples: Jeder hat in seinem Leben Wendepunkte, und manchmal wartet man darauf. Aber manchmal sind diese Momente bereits geschehen und man wartet noch immer. Also muss man versuchen, die Zeit einzuholen. Man merkt erst gar nicht, dass sich das Leben verändert hat und dass man zu diesen Veränderungen aufschließen muss. Darum geht es bei „The  Waiting Room“. Es geht um das Warten auf Veränderungen. Aber vielleicht haben sich diese schon vollzogen? Man muss den inneren Mut entwickeln, solchen Wendepunkten ins Auge zu schauen.

Interviewer: Die Platte beginnt mit dem Stück „Follow Me“ von Bronislaw Kaper, das vom Soundtrack zu „Meuterei auf der Bounty“ stammt. Wie hat es dieser Song aufs Album geschafft?

Stuart Staples: Diese Melodie und dieser Song begleiten mich schon seit langer Zeit. Ich habe ihn vor etwa 10 Jahren ausgearbeitet. Er ist so wunderschön. Ursprünglich sollte das Album mit „Second Chance Man“ beginnen, und es war gut, mit der Idee im Hinterkopf zu arbeiten, dass die Platte so direkt und unmittelbar starten würde und dass gleich auf dem ersten Schlag sofort diese bestimmten Worte gesungen werden. Aber als das Album langsam Form annahm, kam mir die Idee eine Art Auftakt einzufügen, der Raum schafft für „Second Chance Man“, damit dieses Stück direkt in das Bewusstsein des Hörers vordringen kann. Ich erinnerte mich an „Follow Me“ und der Song bekam in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung für mich. Es gibt auch eine Version mit Gesang, in der es heißt: „Komm mit mir auf diese Insel, ich werde dich mitnehmen, es ist ein magischer Ort und wir gehen dorthin.“ Für mich passte dieses Stück auf einmal sehr gut an den Anfang der Platte. Also trommelten wir die Band noch einmal zusammen und nahmen es auf – wir haben es quasi eingefangen. Und als es dann auf dem Album war, schien sich das ganz Puzzle zusammenzufügen.

Interviewer: In dem Stück „Hey Lucinda“ hört man die Stimme von Lhasa de Sela. Es ist eine Aufnahme, die vor ihrem Tod 2010 entstand. Warum hast du sie gerade jetzt verwendet?

Stuart Staples: Der Schmerz in mir war der Grund dafür. Ich konnte mir die Aufnahme vorher einfach nicht anhören und ich habe mir fünf Jahre lang nicht mehr Lhasas Stimme angehört. Wir waren enge Freunde. Der Song kam mir langsam wieder ins Bewusstsein und ich hörte ihn mir zum ersten Mal wieder an. Ich hörte ihn auf eine andere Art, ich hörte das Gespräch, das wir in diesem Moment geführt haben. Wir sitzen uns gegenüber in Montreal und singen uns gegenseitig an. Ich erinnerte mich sehr klar und intensiv an diesen Moment. Also nahm ich die Musik weg und wir begannen mit der Band noch einmal von vorn. Wir haben quasi die Musik um die Stimmen herum konstruiert. Dieser Moment war etwas ganz Besonderes für mich. Die Musik sollte ihm Raum geben, ihn herausfordern und die Ideen umsetzen, nach denen das Stück verlangte. Ich habe in dieser Aufnahme alles umgesetzt, was ich musikalisch in den vergangenen 20 Jahren gelernt habe. Es war eine große Leistung, die Musik für diesen Song zum Leben zu erwecken.

Interviewer: Was meinst du damit?

Stuart Staples: Die Struktur, das Zusammenspiel der Musik und der Stimmen, das Timing. Musikalisch ist das in meinen Augen der abstrakteste Song, den ich je gemacht habe.

Interviewer: Du meinst damit, ein Stück um eine Stimme der anderen Person herum zu entwerfen?

Stuart Staples: Es geht um mehr. Es geht um zeitliche Verschiebungen. Diesem Aspekt musste die Musik zu diesem Stück gerecht werden. Wenn man sich einem Stück aus dieser Perspektive nähert, dann geht es nicht nur darum, wie der Rhythmus ist und wo bestimmte Akzente gesetzt werden. Die Dinge fangen auf einmal an, sich zu verkanten und zu drehen. Das ist das Wichtige dabei, das bereits in der Essenz des Songs und in Lhasas Stimme angelegt ist. Es geht um die Unbeständigkeit der Dinge, und darum wie sie sich verändern und sich um dich herum bewegen.

Interviewer: Ist das auch das Hauptthema des Albums?

Stuart Staples: Es gibt verschiedene Themen auf der Platte, aber ich würde nicht sagen, dass dies der übergeordnete Aspekt ist. Es ist ein Element, aber es gibt noch andere Dinge, die angesprochen werden. Etwa die Träumereien eines 50 Jahre alten Mannes, der irgendwie fehl am Platze ist.

Interviewer: Damit meinst du dich?

Stuart Staples: Ja. Wenn man schreibt – und ich schreibe schon seit langer Zeit –, dann entwickelt man eine immer klarere Vorstellung von dem, was einen reizt und zum Schreiben bewegt. Manchmal ist man selbst überrascht, wohin sich ein Album thematisch entwickelt. Ich habe kein Interesse daran, über die gleichen Dinge wie vor 20 Jahren zu schreiben – oder auch nur darüber nachzudenken. Die Perspektive und der Fokus verschieben sich.

Interviewer: Richard Dumas hat das Cover-Photo für das Album gemacht. Was hat es mit dem Eselskopf auf sich?

Stuart Staples: Mit Richard verbindet mich eine lange Freundschaft. Seit er zum ersten Mal in unsere Garderobe kam – in Rennes im Jahr 1993 –, hat er sich zu einem großartigen Photographen mit einem hervorragenden Ruf entwickelt. Ich fragte ihn, ob er die Band photographieren würde, und entschloss mich, meinen Eselskopf mit zu dem Shooting zu nehmen, um zu sehen, was wohl passiert. Das ist mein Alter Ego, das ich immer in meinem Büro liegen habe. Ich habe den Eselskopf vor drei oder vier Jahren in einem Shop für antike Theaterrequisiten gekauft und er ist schon gut 100 Jahre alt. Ich nahm ihn also mit, und wir hatten Spaß und irgendwie entwickelte sich da was. Ich hatte eigentlich schon das Artwork entworfen. Es war bereits komplett fertig und ich wusste, das Album würde „We Are Dreamers“ heißen. Dann machte Richard diese Bilder und als ich sie sah, wusste ich: „OK, das ist einfach unwiderstehlich.“ Obwohl mein Artwork gut war, änderten diese Bilder alles, und mir war sofort klar: Das Album heißt „The Waiting Room“, und das hier ist das Cover.

Interviewer: Vielen Dank für das Interview.

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