Wir wissen nicht allzu viel über den Mann, der da zu später Stunde das Publikum im tendenziell eher zurückhaltenden Hamburg aufzupeitschen versucht. Sein Name zum Beispiel ist bereits Sekunden nach Nennung bereits vergessen.
Auch, warum er permanent brüllt, obwohl hier üblicherweise ein klassischer Kammerton vorherrscht, wirkt rätselhaft wie der Umstand, dass ein Moderator vom Ballermannsender N-Joy auf die Bühne eines hochkulturellen Ortes wie der Elbphilharmonie geraten konnte. Eins aber bleibt dann doch haften: Sein Vater ist 80 Jahre alt und schläft schnell mal ein.
Mit dieser beiläufigen Auskunft nämlich fordert der entfesselte Radioeinpeitscher nahezu 2.200 Menschen im Großen Saal auf, nun gefälligst aber mal richtig auszurasten für einen Künstler, der hier im Grunde gar nicht hingehört: Júníus Meyvant.
Mit seinem Debütalbum „Floating Harmonies“ hat der Isländer voriges Jahr die Welt der musikalischen Vorurteile ein wenig durcheinander gewirbelt. Anders als Landsleute von Sigur Rós bis Björk ist es schließlich nicht melodramatisch getragen, sondern geradezu fröhlich verspielt. Der Vater des Moderators dürfte also nicht der einzige im Auditorium sein, dem das ein wenig zu profan ist, um die Aufmerksamkeit kurz vor Mitternacht hochzuhalten.
Zu poppig ist es für all die Stammgäste in Abendgarderobe, zu soulig für das Viertel feuilletonistisch orientierter Gäste über 60, zu funky für jene Klientel, die den spektakulären Neubau unbesehen besuchte, egal, was darin dargeboten wird.
Viele Whiteheads auf den Zuschauerterrassen reagieren daher bestenfalls höflich reserviert auf den Kammerorchesterfunk des Quintetts mit Gitarre, Bass, Schlagzeug und Keyboards, an denen vorwiegend Musiker mit Namen Meyvant sitzen.
Alle anderen aber tun, wie ihnen vorweg geheißen, und rasten im Rahmen des Möglichen eines bestuhlten Konzerts aus. Kein Wunder: Der langhaarige, vollbärtige, stämmige Sänger mit dem feenhaften Gesang kocht die Elbphilharmonie auf kleiner Flamme hoch und bringt sie dann peu à peu zum Sieden. Auch wenn es ein wenig dauert.
Um warm zu werden mit diesem einschüchternden Koloss moderner Musikarchitektur, wagt sich die Band gleich zu Beginn an ein paar der schmissigen Stücke ihrer Platte. Dann jedoch schaltet sie drei Gänge zurück, als seien die fünf Isländer ein bisschen eingeschüchtert von der wuchtigen Akustik eines Saals von Welt, in dem die Streicher und Bläser ansonsten von den allerbesten Virtuosen der Hochklassik kommen, nicht aus dem Midi-Board eines der vielen Meyvant-Brüder on stage. Die meisten davon verlassen dann auch nach und nach das Bühnenrund in der Mitte des Saales und lassen ihren Frontmann allein mit sich, seiner Gitarre, dem hauchzarten Gesang und einer Präsenz, die ihresgleichen sucht.
Dank leise gehauchter Anekdoten aus seiner isländischen Heimat („I have a friend in Reykjavik…“) und ein paar launigen Scherzen („I have another friend in Reykjavik…“) groovt sich der scheue „Berg von einem Mann“, wie Június Meyvant vom überdrehten Radiomoderator angekündigt wurde, aber langsam ein und kriegt die Halle mit dem vollen Funkbrett seiner Jungs in den Griff, das schon die Platte herausragen ließ aus dem Allerlei des Mainstreams.
„Color Decay”, dazu „Be A Man“, zuletzt das hinreißend beschwingte, früher hätte man gesagt: fetzige „Neon Experience“ – als dieser bemerkenswerte Gig nach gerade mal gut einer Stunde mit unfassbar lässiger Opulenz aufs Finale zusteuert, haben Június Meyvant der Welt und sich endgültig bewiesen, dass dieser grandiose Konzertsaal vollständig poptauglich ist.
Zumindest, sofern sich der Pop so orchestral und zugleich filigran zeigt wie dieser. Sicher, atmosphärisch bedürfte er eigentlich weit mehr Bewegungsfreiheit als die vornehme Elphi zulässt. Das pure Klangerlebnis gleicht den mangelnden Radius jedoch spielend aus. Und die betagteren Stammgäste dürften es begrüßen, nicht auf dem Moshpit gelandet zu sein.
Ein fabelhaftes Konzert an einem merkwürdigen Ort in Hamburg.