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Wir wollten uns die Laune nicht versauen lassen – Goat Girl im Interview

Knapp vier Minuten genügten Goat Girl 2016, um als neue Indie-Rock-Hoffnung zu gelten. Knapp vier Minuten sind im Kosmos von Goat Girl zwei Songs, denn der minimalistische und sehr streng arrangierte Post-Punk des Quartetts braucht nie lange, um auf den Punkt zu kommen. Vor zwei Jahren veröffentlichten die vier Musikerinnen aus London die Seven-Inch „Country Sleaze“ mit der B-Seite „Scum“ und widerlegten damit die These, dass Indie-Rock tot und sowieso längst nicht mehr cool sei.

Vor diesen beiden Songs hatten sich Goat Girl mit furiosen Auftritten in The Windmill in Brixton einen Namen gemacht, doch außerhalb dieser lokalen DIY-Szene im Süden Londons kannte kaum jemand die Band. Nach einer weiteren Seven-Inch im letzten Jahr veröffentlichen Sängerin Lottie aka Clottie Cream, Gitarristin L.E.D., Bassistin Naima Jelly und Schlagzeugerin Rosy Bones nun ihr Debütalbum „Goat Girl“, auf dem sie ihrer Formel treu bleiben: 19 Songs in 40 Minuten, kein Song schweift aus, kein Snare-Schlag oder Saiten-Zupfer, der nicht exakt an der richtigen Stelle sitzt. Wir sprachen mit Sängerin Clottie Cream und Schlagzeugerin Rosy Bones über den Hype nach den ersten beiden Songs 2016, den subtilen Humor in ihren oft desillusionierten Texten und den Bezug ihrer Musik zu ihrer Heimatstadt London.

MusikBlog: In eurem Musikvideo „The Man“ werdet ihr von einer hysterischen Horde männlicher Fans gejagt. Damit parodiert ihr die Beatlemania, aber macht ihr euch mit dem Video auch über euren eigen Hype lustig?

Rosy Bones: Man kann das Video auf jeden Fall so verstehen, aber das war ursprünglich nicht unsere Absicht. Wir wollten ein Verhalten von Männern bildlich festhalten, das sonst nur selten gezeigt wird und das auch Männer selbst nur selten zeigen. Gemeint ist eine hysterische, fanatische Verehrung, wie sie vor allem weiblichen Fans oft zugeschrieben wird. Wir haben auch viele männliche Fans, aber die verehren uns nicht auf eine Art und Weise, wie es junge Frauen etwa bei den Beatles taten.

Clottie Cream: Genau, wir wollten die Geschlechterrollen einfach mal umdrehen. Das war eine interessante Erfahrung, vor allem für die Männer, die während des Drehs aufgeregt rumschreien mussten. Viele kamen später zu uns und erzählten, dass es für sie ein beinahe therapeutisches Erlebnis gewesen sei, über Stunden so starke Emotionen zu zeigen und alles rauslassen zu können. Genau das wollten wir ja auch mit dem Video anregen, dass sich Männer und Frauen in ihrem Verhalten nicht davon einschränken lassen, welches Verhalten als typisch männlich oder weiblich angesehen wird.

MusikBlog: Aber um noch mal auf den Hype zurückzukommen: Hat es euch irritiert, für wie viel Wirbel die ersten beiden Songs „Country Sleaze“ und „Scum“ 2016 gesorgt haben?

Clottie Cream: Natürlich hat es uns gefreut, gleichzeitig aber auch verunsichert, weil wir uns gefragt haben, weshalb so viele Leute bereits nach zwei Songs so großes Interesse zeigen. Dadurch hatten wir auch nicht so viel Zeit, uns als Band in Ruhe zu entwickeln und unseren Stil zu finden. Wir standen schon früh unter Beobachtung, und wenn sich Leute für dich interessieren, haben sie natürlich auch Erwartungen an dich. Insofern war dieser frühe Hype nicht immer leicht, aber insgesamt haben wir davon natürlich profitiert.

MusikBlog: Zum Beispiel habt ihr 2016 bei Rough Trade unterschrieben. Ist euch der Übergang, von der Band als Hobby zur Arbeit in professionellen Strukturen, schwergefallen?

Clottie Cream: Als wir die Band gegründet haben, wollten wir einfach nur als Freundinnen kreativ sein, hatten aber ansonsten keinerlei Ambitionen. Als wir dann plötzlich Teil eines Labels waren, war es zunächst ungewohnt, dass uns Menschen vorgaben, was wir tun oder wo wir spielen sollen. Wir kommen ja aus einer DIY-Szene, in der man alle Entscheidungen selbst trägt. Das funktioniert bei einem Label vollkommen anders. Das war zunächst ein kleiner Schock, aber mittlerweile haben wir uns eingewöhnt.

MusikBlog: Habt ihr den Vertrag mit Rough Trade wirklich am Tag der Brexit-Entscheidung unterschrieben?

Rosy Bones: Genau, ein ziemlich bittersüßer Tag. Einerseits hat er unser Leben ziemlich ruiniert, aber andererseits hat er uns auch eine große Chance ermöglicht. Wir steckten in einem moralischen Dilemma, konnten uns nicht wirklich über den Deal freuen, wollten uns aber auch die Laune nicht komplett versauen lassen.

MusikBlog: Ihr habt eben erwähnt, dass ihr durch den frühen Hype als Band wenig Zeit hattet, euren Stil zu finden. Sind deshalb auf eurem Debütalbum „Goat Girl“ 19 sehr kurze Stücke, um viele verschiedene Stile auszuprobieren?

Clottie Cream: Die Kürze der Songs hat viel eher mit unserer kurzen Aufmerksamkeitsspanne zu tun. Wenn wir das Interesse an einem Song verlieren, weil wir ihm nichts Neues mehr entlocken können, beenden wir ihn auch konsequent.

MusikBlog: Heißt das umgekehrt, ihr habt euren Sound mit „Goat Girl“ gefunden?

Clottie Cream: Das Album repräsentiert, wie wir heute klingen. Das heißt aber nicht, dass wir nicht in Zukunft neue Wege finden, uns auszudrücken, neue Instrumente ausprobieren oder sogar einen ganz neuen Stil.

MusikBlog: Noch kürzer als die Songs sind ja die instrumentalen Stücke auf „Goat Girl“, in denen ihr mit manipulierten und verzerrten Sounds experimentiert.

Rosy Bones: Diese Songs sind als Interludes gedacht, die dem ganzen Album einen Flow geben. Einerseits sollen sie also die Songs miteinander verbinden, dem Album eine einheitliche Atmosphäre verleihen. Andererseits reizte uns auch der Kontrast zwischen den sehr streng arrangierten Songs und den improvisierten Interludes. Denn während wir die Songs des Albums vor den Aufnahmen ausgiebig geprobt haben, sind wir die Interludes sehr viel spontaner angegangen, haben mit neuen Sounds experimentiert oder improvisiert. Somit zeigen Songs und Interludes die zwei Seiten der Band.

MusikBlog: Im Gegensatz zu den improvisierten Interludes klingen die Songs sehr minimalistisch und reduziert. Lautet eure Devise beim Songwriting: weniger ist mehr?

Clottie Cream: Absolut. Ich denke, das hängt mit unserer Liebe für Minimalismus von Steve Reich oder Philip Glass zusammen. Wir sind einfach nicht daran interessiert, verrückte Schlagzeug- oder Gitarren-Soli zu spielen. Das würde nur von den wichtigen Elementen des Songs wie der Melodie oder den Riffs ablenken. Wir haben für uns festgestellt, dass unsere Songs am besten funktionieren, wenn wir sie simpel halten.

MusikBlog: Steve Reichs und Philip Glass‘ Kompositionen verlangen vom Hörer aber viel Geduld. Heißt das, als Hörerinnen habt ihr eine weniger kurze Aufmerksamkeitsspanne als als Musikerinnen?

Clottie Cream: Manchmal, aber auch hier haben kurze Stücke ihren Reiz. Beispielsweise haben The Residents ihr „Commercial Album“ mit vierzig Songs veröffentlicht, die alle nur ungefähr eine Minuten lang sind. Das ganze Album hat also eine Spielzeit von nur 40 Minuten und lässt dich ziemlich unbefriedigt zurück, weil du dich an den Songs noch nicht satt gehört hast. Deshalb möchtest du es dir immer und immer wieder anhören. Aber ich stehe eben auch auf diese minimalistischen Kompositionen von Philip Glass, bei denen sich die Musik nur ganz langsam entwickelt und erst nach und nach alle Elemente zusammenkommen. Das ist ein ganz anderes Hörerlebnis, das deine Geduld aber belohnt.

MusikBlog: Könnt ihr euch vorstellen, auch bei Goat Girl in Zukunft längere Songs zu schreiben, die sich erst nach und nach entwickeln?

Clottie Cream: In gewisser Weise haben wir das bei den Interludes ausprobiert, auch wenn diese auf dem Album nun sehr kurz sind. Wir haben zusammen im Studio gesessen, uns in die Musik vertieft, gemeinsam improvisiert und den gesamten Prozess aufgenommen. Teilweise dauerten diese Jams eine ganze Stunde. Aber auch unser ganzes Album kann man als einen langen Song ansehen, der zwar in verschiedene Parts unterteilt ist, zwischen denen es aber eine starke Verbindung gibt. Sie werden von einem Flow, der Atmosphäre und Übergängen zwischen den einzelnen Stücken zusammengehalten. In gewisser Weise ist unser Album ein einziger 40-Minuten-Song. Die 19 Songs ergeben eine zusammenhängende Erzählung und sind nicht einfach nur eine Sammlung von Singles.

MusikBlog: In Text und Ton klingt diese Erzählung aber ziemlich desillusioniert und frustriert.

Rosy Bones: Das sehe ich anders. Zwar handeln viele Songs von negativen Erfahrungen, aber sie entlocken diesen auch immer wieder positive Aspekte. Oder geben ihnen einen humorvollen Twist. Das mag ich auch an Comedians wie Bill Hicks, dass sie häufig tragische Geschichten humorvoll erzählen. Und Humor spielt auch auf unserem Album eine große Rolle, es herrscht nicht nur Schwarzmalerei. Humor ist auch wichtig, damit man sich nicht zu ernst nimmt.

MusikBlog: Über die Lyrics habt ihr gesagt, dass sie davon handeln, „in London aufzuwachsen und den Niedergang der Stadt hautnah mitzuerleben.“ Kann man „Goat Girl“ auch verstehen, wenn man nicht in London aufgewachsen ist?

Rosy Bones: Klar, es geht gar nicht so sehr um London. Das Album erzählt vom Erwachsenwerden und davon, dass auch um dich herum Veränderungen stattfinden. Damit kann sich jeder identifizieren. Außerdem zeichnet das Album kein realistisches Bild von London, die Stadt scheint hier eher der Fantasie eines Kindes entsprungen. Es gibt skurrile Protagonisten wie „The Man With No Heart Or Brain“ oder den „Viper Fish“ und man könnte die Erzählung des Albums auch an einen ganz anderen Ort verlegen. Mit dem echten London hat sie sowieso nicht allzu viel zu tun.

MusikBlog: Das echte London verändert sich rasant, vor allem die Gentrifizierung sorgt dafür, dass es Bands und Musikszenen immer schwerer haben. Wie wichtig war die DIY-Szene rund um den Club The Windmill für euch?

Clottie Cream: The Windmill ist vielleicht der letzte Ort in Südlondon, an dem sich junge Musikerinnen ohne kommerzielle Rahmenbedingungen noch kreativ austoben können. Zumindest kenne ich keinen anderen solchen Ort, der überlebt hat.

Rosy Bones: Aber diese Freiräume werden ja nicht nur in London immer knapper, dieses Problem herrscht in fast allen anderen größeren Städten ebenfalls. Ich bin auch überzeugt davon, dass daraus wieder etwas Kreatives entstehen wird, weil junge Leute neue Orte und neue Strukturen schaffen werden, um sich kreativ ausleben zu können. Aber wir können uns glücklich schätzen, dass wir noch einen Ort wie The Windmill hatten, wo wir uns als Band entwickeln konnten.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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