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Holly Herndon – Proto

Holly Herndon ist ein riesiges, menschgewordenes Rätsel. Die US-Amerikanerin mit Sympathien für die deutsche Hauptstadt bewerkstelligt es scheinbar mühelos, aus Spuren und einer gesampleten Stimme Pop derartig progressiv zu interpretieren, dass er den meisten wohl nicht als solcher vorkommen wird.

Dabei fordert Herndon nicht einmal dazu auf, die eigene Komfortzone übermäßig zu verlassen, sondern wartet genau da, wo sich die große Riege experimenteller Pop-Künstlerinnen nicht mehr hinwagt.

Aus Versatzstücken und einem andauernden Simulationsflimmern wird auf „Proto“ erneut der musikgewordene Aufruf, zu hinterfragen, was nicht oder nur bedingt nötig ist.

„Eternal“ setzt die Akzente mit Beats, die Spotlights heraufbeschwören, gipfelt sogar nach progressivem Aufbau in einem Drop und endet im ekstatischen Gesangsaustausch mit sich selbst.

Die teils extrem verzerrte Stimme Herndons steht als synthetisches, virtualisiertes Gegenstück einem häufig sehr naturalistischen Sound gegenüber.

So scheint sich „Crawler“ aus der eigenen Materialität befreien zu wollen, aus Beben werden Drone-Sounds, aus der Waldkulisse, den Tiergeräuschen, wird das unendliche Licht, eine hohe Frequenz.

Herndon schafft es auf „Proto“, den andauernden und zerfressenden Gedankenströmen Ausdruck zu verleihen, die in Worte gefasst keinen Sinn ergeben würden.

Anstatt den Konflikt zu intellektualisieren und sich poetisch mit dessen Lösung zu beschäftigen, macht Herndon diesen Konflikt zur Poesie. Diese ist dann genau so erratisch, wie der Ursprung, aus dem sie entsteht.

Herndons Ansatz unterscheidet sich also insoweit von einem großen Teil sonstiger Popmusik, dass sie nicht sich selbst in den Mittelpunkt manövriert, sondern das endgültige Produkt dort platziert.

Wenn frühe Stummfilmpioniere um Dziga Vertov eine poetische Sprache des Films entwickeln wollten, den Rhythmus einer pulsierenden Stadt visualisieren wollten, dann unternimmt Herndon das gleiche mit der menschlichen Verfassung im digitalen Zeitalter.

Aus Unsicherheiten werden Muster, aus Mustern ergeben sich Rhythmen, die Herndon auf „Proto” in ein klangliches Gewand schnürt.

Über die Zugänglichkeit lässt sich streiten. Eine gewisse Faszination dürfte es aber doch jedenfalls für jeden entfalten, der den Versuch wagt, die Strukturen in Herndons Musik nachzuvollziehen.

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