Bon Iver 2019 ist ein Spektakel in zwei Akten, ganz ohne spektakuläre Bühnenshow. Der US-amerikanische Songwriter begeistert mit einem Spektrum, das das Prädikat Singer/Songwriter schon im Ansatz aus den Angeln hebt.
Das dritte Album “22, A Million” stieß mit autotune-ähnlicher Stimmverfremdung und inflationärem Vocoder-Einsatz einige Die-Hard-Fans vor den Kopf. Sie verfielen dem Waldschraten in einer Zeit, als er sein meisterhaftes Debüt “For Emma, Forever Ago” veröffentlichte, das er abgeschottet in einer Jagdhütte im wilden Niemandsland von Wisconsin aufnahm.
Eine der spannendsten Fragen des Abends war folglich: Wie würden die Songs des aktuellsten mit den beiden ersten Alben harmonieren? Die Antwort: hervorragend. Justin Vernon spielt zwei knapp einstündige Sets, geteilt durch eine 20-minütige Pause.
Diese Aufteilung war im Vorfeld bekannt, und man musste davon ausgehen, dass er um der Konsistenz Willen ein Set dem deutlich modernen Vibe von “22, A Million” vorbehält, um anschließend klassischer seine großen Indie-Singer/Songwriter-Meisterwerke in den Nachthimmel des wunderbaren Kulturpark Schlachthof, Wiesbaden zu singen.
Doch Pustekuchen, er mischt querbeet – und alles geht sensationell auf. Zwischen Falsett- und Vocoder-Gesang wechselt Vernon genauso selbstverständlich von Synthesizer, zu E- oder Akustikgitarre wie von „715 Creeks“ zu „Flume“ – und trifft dabei immer einen unverkennbar eigenständigen Sound.
Seine hervorragende Liveband tut ihr übriges. Wenn Bassist Michael Lewis mit einem T-Shirt, auf dem “Trust Women” prangt, ans Tenor-Saxofon wechselt, um dort diesem Instrument den Glanz aus den 80ern in voller Blüte angedeihen zu lassen, dann stößt das in tausenden von Augen und Ohren genauso auf Faszination, wie die beiden Schlagzeuger Matthew McCaughan und Sean Carey, wenn sie synchron trommeln, oder Carey dazu mit bildschönen Backingvocals Vernons makellosen Gesang unterstützen.
Das Ende des ersten Sets gebührt entsprechend „Perth“, bei dem beide Drummer ihre simultanen Stärken voll ausschöpfen, und Vernon bereits zum x-ten Mal beweist, warum er einen großen Unterschied zum Einheitsbrei der Singer/Songwriter-Landschaft darstellt und völlig zurecht diese große Open-Air-Location mit unzähligen kulinarischen Getränke- und Essenständen, nebst Amnesty International und Viva Con Aqua Zelten nahezu ausverkauft.
Er trägt Stirnband und darüber ein Over-Ear-Kopfhörer. Flackert er mit diesen Markenzeichen über die Leinwände links und rechts neben der Bühne, fühlt sich das auch optisch einmal mehr nach den 80ern und einem Mark Knopfler als Frontmann der Dire Straits an.
Doch Vernon ist deutlich vielseitiger. Er startet das zweite Set alleine an der Akustikgitarre mit „Skinny Love“. Als danach bei „Minnisota WI“ und „Holocene“ aus seinem selbstbetitelten Zweitwerk auch seine Band wieder glänzen darf, ist das außergewöhnliche Spektakel längst beschlossen.
„The Wolves (Act I und II)“ und „Emma“ sind am Ende des regulären, zweiten Sets bereits die puren Sahnehäubchen auf einem soundtechnisch sensationellen Abend – bei Open Airs längst keine Selbstverständlichkeit.
Mit „22“ als einzige Zugabe, zeigt Justin Vernon dann nochmals, warum sein aktuelles Album gerade live so viel besser ist, als viele Kritiker zur Veröffentlichung annahmen.
Es gibt seinem gesamten Schaffen trotz der Fülle an Stilen und Sounds wie selbstverständlich einen roten Faden, der fest verzurrt ist. Diese unerklärliche Stimmigkeit beschließt letztlich ein Konzert, das für die Alternative Nation zu den Highlights des Jahres zählt.