Kurz und schmerzlos: Indie-Folk ist das kaum mehr, das ist einfach nur noch groß. Bon Iver, der mit schlappen zwei Alben zu einem der wenigen absoluten Kritikerlieblinge wurde, die das Ganze auch mit zählbarer Anhängerschaft untermauern können, hat sich mit seinem dritten Album selbst übertroffen.
Kräftiger Gebrauch von Autotune, ohne dass es scheiße klingt, verschobene Rhythmik, seltsames Computerblubbern, zerschnitte Beats, aus dem Nirwana säuselnde Akustikgitarren:
„22, A Million“ ist so facettenreich wie das Farbspektrum eines Kaleidoskops. Und es zeigt sich stark infiziert von einem anderen Musiker, der die Grenzen heutiger Hörgewohnheiten erfolgreich dehnt, neu zieht und absteckt: James Blake.
Ohne dabei ein Abklatsch zu sein oder wie dessen Fährtenleser den gleichen Dissonanz-Weg zu gehen, sondern eher in der Tradition künstlerischer Befruchtung, befreit sich Justin Vernon alias Bon Iver auf „22, A Million“ von den Konventionen seines lieb gewonnen Folk-Zuhauses und bricht, im wahrsten Wortsinne, mit den Strukturen und Beats.
Auf Blakes nicht minder famosem „The Colour In Anything“ aus dem Frühling dieses Jahres, durfte man beide gar zusammen erleben, auf dem Song „I Need A Forest Fire“.
Auch Vernons Szene-Wellen geschlagen habendes Hip-Hop-Side-Project Jason Feathers macht erklärbar, was da Absurdes auf „22, A Million“ geschieht.
Wie selbst Technik-Fehler in manchen Aufnahmeprozessen als Mittel zur Soundgestaltung Eingang in das Klangbild erfahren haben, man glaubt zuerst, die eigenen Lautsprecher schwächeln, wie man neben seltsamstem Computergefrickel ein derart schönes, der Zeit entrücktes Banjo stellen kann. Wie das digitale Dehnen, Verzerren, Beschneiden der eigenen Stimme, ganz ähnlich wie bei Blake, Gesang einen völlig neuen Platz im Pop zu geben scheint: „22, A Million“ lotet die Grenzen der eigenen Hörgewohnheit auf faszinierende Weise aus.
Bon Ivers drittes Album nach fünf Jahren ist damit natürlich etwas für urbane Hipster und Menschen, die immer glauben, einen Schritt vor anderen sein zu müssen und meist doch nur einen zu langen Abnabelungsprozess von ihren spießigen Eltern hinlegen, welchen sie über kurz oder lang doch gleichen.
Kein hipper Szeneladen in den Großstädten der westlichen Welt, in dem „22, A Million“ nicht laufen wird.
Die einzige echte Kehrseite an diesem Album ist seine absolute musikalische Neuartigkeit und sein Mangel an einer gesunden Portion Traditionsbewusstsein. Ich sehe Prominente dazu schon bewegte Tweets absetzen, um die Welt mit ihrem Geschmack zu beeindrucken.
Indes ist das aber nicht Justin Vernons Problem. Sein Voranpreschen, Indie-Folk in Neuland zu hieven, ist bezaubernd.