Das Ausmaß, in dem die Musikwelt vergangenes Jahr Bezüge auf die Vergangenheit nahm, spiegelte kollektive Sehnsucht nach verstaubtem Glitzer wider. Oder glitzerndem Staub? Spontan fällt einem Kylie Minogue ein, die sich auf „Disco“ bereits über den programmatischen Titel in den sorgenbefreiten Nachtzentren der Eighties wähnte. Oder Miley Cyrus’ „Plastic Hearts“, maßgeblich von wavigen Synthpop-Exkursen und rotzgörigem Punk à la Joan Jett bestimmt. Man könnte die Liste umstandslos weiterführen.
Nun ist Marco Petracca alias HHNOI, modularer Klangdichter und Produzent aus Köln, kein Pop-Act. Weshalb auch sein zweites Studiowerk nicht mit den für Popmusik typischen Erwartungs- und Entlohnungsreflexen korrespondiert. Mit was dann?
„Dear Future“ möchte, anders als der Titel vermuten lässt, gar nicht den Blick gen Zukunft richten. In einer Zeit, in der dieser Blick ebenso wie der Wunsch nach einer Vergangenheit, in der man sich zwecks erinnerungswürdiger Momente noch verabreden konnte, planbar war, bleibt „Dear Future“ auf der Stelle stehen und beharrt bewusst auf seiner selbst auferlegten Isolation, um sich allen voran der Gegenwart als künstlerischen Gemütszustand zu widmen.
Es fällt hierbei durchaus schwer, die insgesamt zehn, teils stark luziden Expeditionen zwischen defragmentierten Soundschnipseln, wabernden Modular-Verzerrungen, geruhsamen Trip-Hop-Ansätzen, ungefilterten Glitches und sogar vereinzelten Post-Rock-Elementen in einem buchstäblichen Sinne zu hören.
Was HHNOI mit seinen Klangexpeditionen geschaffen hat – nämlich weitaus mehr als eine stilistische Einordnung zwischen Noise, Ambient und technoiden Field Recordings –, ist stattdessen von metaphysischer Natur. Eine sensorische Selbsterfahrung, angesteuert von psychoanalytischen Patterns und erwartungsdekonstruierenden Störeffekten.
Warum „Dear Future“ deshalb ein im Grunde genommen unprogrammatischer Titel ist? Weil dieses Album, wie bereits erwähnt, nie über den Ist-Zustand hinausschaut. „Dear Future“ ist eine höfliche Adressierung, keine Frage.
Aber eben auch ein Ruf in ein vakuumiertes Resonanzfeld, das nicht nur im luft-, sondern gleichermaßen auch bedeutungslosen Raum keinerlei Echo erfährt. Keinerlei Echo erfahren will. Die Antithese zum Titel in Reinform sozusagen.
Denn: Die Zukunft ist, trotz aller formenden Gedanken daran, nicht zu formen. Die Gegenwart hingegen schon. Und das hört man hier. Detailverliebtheit würdigend und doch besorgniserregt.
Schon im Opener „March Of The Clicks“ schwingt sich die gegenwärtige Unmittelbarkeit zu einem eigentlich schwindelerregenden Bekenntnis auf. Modularfield-Member Petracca überführt repetitive Elektro-Stakkati sowie eine anschwellende, wabernde Weitflächigkeit gleich zu Beginn in rhythmische Orientierung – was durchaus als spürbare Metapher für das hybridisierte Leben zwischen dem Wunsch nach physischer Nähe auf der einen, bei zeitgleich totaldigitaler Inkorporiertheit des Menschen auf der anderen Seite durchgeht.
Auch im weiteren Verlauf von „Dear Future“ erwischt man sich bei fortwährenden Decodierungsprozessen des persönlichen Erinnerungsvermögens. Man lernt, wenn man denn auch hin- und nicht nur zuhört, die eigene Ikonografie, seinen unterbewussten Erfahrungsschatz kennen.
Auch „Signal“ zum Beispiel ist so ein schräges Wirrwarr, eine Eskalation aufkeimender Nervosität. Eine Bestandsaufnahme dessen, was im infoinflationären Ohnmachtszeitalter gar nicht mehr als Signal ankommt. Gar nicht mehr ankommen kann.
Die hauchenden Vocals von Surkid lassen sich hierbei fraglos als eine wegweisende Nebelkerze verstehen. Das gelingt HHNOI eben ganz formidabel: Einbettung menschlicher Züge in eine durch und durch dehumanisierte Narration.
Und wenn er, also Petracca, im Vorfeld der Veröffentlichung von „Dear Future“, selbst davon sprach, dass hiermit ein „[…] soundtrack to a future that never had a past“ produziert wurde, dann wird das nirgends deutlicher als in „Derailer“.
Ein Track, der sich voll und ganz auf das absolute Jetzt stürzt, dem es dabei jedoch gleichfalls gelingt, mit dröhnenden und wechseltaktigen Stimuli gewohnte Ablaufroutinen alltäglicher Erfahrungen zu manipulieren.
Anders gesagt: Schon mal einem Hund dabei zugesehen, wie er vor ein laufendes Auto rennt? Man spürt ja unweigerlich diese Verzögerung der Szenerie, nur um im Anschluss an den Aufprall wiederum eine erneute, zutiefst rigorose Beschleunigung der Zeit wahrzunehmen, richtig? Yep, genau so klingt dieser Track.
Unverkennbar auf diesem immersiven, zur achtsamkeitsbasierten Klangmeditation ausproduziertem Kunstwerk ist im Übrigen auch die visuelle Erfahrbarkeit, die ihr beim Hören anheim fällt. Ein Punkt, der nahe liegt.
Marco Petracca ist mit Rachel Palmer verheiratet, die ihres Zeichens nicht nur ebenfalls beim Label Modularfield unter Vertrag steht, sondern als Visual Artist frei flottierende, neurotische Frequenzströme in einen geradezu sedativen Einklang übersetzen kann.
Für HHNOI ist das nicht nur das künstlerische Antidot seiner bewusst erzeugten Erwartungssabotage gegenüber musikalischer Gefälligkeit, sondern auch der entscheidende, inspirierende Quellfaktor, um den eigenen Sound weiterdenken zu können.
Bleibt die Frage: Welche Rolle kann dieser stilistisch überbordenden Ode an den Ist-Zustand in Zeiten wie den derzeitigen zuteil werden, wenn alle Welt nur auf das Vor oder das Nach dem Lockdown fokussiert?
In diesem Kontext bleibt „Dear Future“ ruhig und schwingt sich zum entschärfenden Mechanismus auf, der uns als tickende Zeitbomben im Vogelkäfig der Pandemie ausfindig gemacht hat, im selben Moment aber auch vor der bevorstehenden, von Ungeduld getriebenen Explosion bewahrt.
Und das wiederum muss man wahrhaftig gehört haben, um es zu verstehen.