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Feist – Live im Kampnagel, Hamburg

Feist ist in Hamburg, und das gleich mit einer eigenen Residence-Veranstaltung und einer Weltpremiere. Zweimal täglich und das für fünf Tage steht die Kanadierin mit ihrem Programm “Multitudes” im Kampnagel auf der Bühne.

Was daran – ganz abgesehen davon, dass dies für viele Besucher*innen eines der ersten und wenigen Konzerte während der Pandemie sein dürfte – sonst noch besonders ist für die knapp 200 Menschen, die am gestrigen Sonntag die 18:00-Uhr-Vorstellung besuchten? Sie dürfen selbst dort Platz nehmen, wo sonst die Künstler*innen performen, auf der großen Bühne der Halle K6 und hinter verschlossenem Vorhang. In der Mitte des großen Sitzkreises thront eine kleine, grüne Bühne, keinen halben Meter über dem Erdboden.

Bevor dort die Künstlerin selbst Platz nimmt, gibt es für Zusehende aber noch einiges zu beobachten, über dessen Bedeutung man sicher streiten könnte. Ein Drucker bedruckt, in einer Ecke des Raumes, stetig scheinbar nicht enden wollende Papierrollen mit kaum erkennbaren Buchstaben. Der Beat ist eingängig, weshalb das Geräusch auch niemanden zu irritieren scheint.

Wandert der Blick vom emsigen Drucker ein bisschen weiter nach rechts, tut sich ein ganzes Büro auf, voll ausgestattet mit Schreibtisch, Stuhl und einem Aktenvernichter. Konstruiert Feist etwa die eigenen vier Wände, in denen viele in den letzten 15 Monaten sicher etwas zu viel Zeit verbracht haben? Vielleicht.

Irgendwann betreten Feist und ihre begleitenden Musiker Todd Dahlhoff und Amir Yaghmai das Büro und nach einigem Geschreddere auch die Bühne. Das Set beginnt mit einem Lied, das die Afterparty besingt, die nun bald endlich anstehe. Es sei wieder Zeit, gemeinsam zu tanzen und zu singen, singt Feist und damit genau denen aus der Seele, die sich heute gern mit Sitzen und Wippen begnügen.

Der Titel endet und eine verhaltene Stimmung tritt ein. Was mache ich jetzt noch mal nach einem Song? Klatschen, klar, aber sonst? Feist macht’s vor, animiert das Publikum zu tigerenten-club-artigen Trampeleinlagen und wirkt glücklich, als sich die Anspannung löst.

Leslie Feist will Samstagsenergie am Sonntag, mutmaßt, wo sich die Anwesenden wohl am Vorabend amüsiert haben und schlussfolgert, dass das auch eigentlich egal ist. Schließlich sind auch die eigenen vier Wände manchmal genug.

Feist nutzt die runde Bühne in der Mitte, um sich dem Publikum in allen Richtungen zuzuwenden. Damit sorgt sie nicht nur dafür, dass auch wirklich jeder Besucher wahrheitsgemäß behaupten kann, Feist von vorne gesehen zu haben, sondern auch dafür, dass sich das Publikum gegenseitig beäugt.

Die Beleuchtung bleibt fast den gesamten Auftritt lang angeschaltet, man sitzt ja schließlich selbst auf der Bühne. Gehört man gerade der Himmelsrichtung an, aus der nur Feists Rücken das Sichtfeld bestimmt, wandert der Blick schnell zu denen, die sehen, was da auf der Bühne passiert. Manche wippen mit, beobachten nur fasziniert die Künstlerin, die da jetzt wirklich vor ihnen steht, bei anderen wandert der Blick selbst durch den Saal und darüber hinaus. Denn selbst zwei der vier Wände sind Teil von “Multitudes”.

Diese werden im zweiten Song, der mit Gitarreneinlagen Feists, die man auf “Pleasures” lieben gelernt hat, und einem intensiven Basslauf die Faszination Live-Musik in wenigen Sekunden erklärt, aktiviert und zeigen das Bild zweier Handykameras, die in den Händen von Helfer*innen die Schuhe der Zuschauer*innen abfilmen, sich in Blumensträußen verlieren oder einfach nur auf die Bühne halten.

Die Bildverzögerung führt dazu, dass Feists Performance plötzlich scheinbar tausendfach auf den Wänden zu sehen ist und sich jede ihrer Bewegungen im Sekundentakt dahinter wiederholt. Man kann sich kaum dagegen wehren, selbst das als Referenz zu verstehen, an die Gleichförmigkeit des Alltags in Zeiten einer Pandemie, an den stetigen Fluss von Tag und Nacht, und wieder Tag.

Die Handkameras filmen später auch noch den Drucker ab, der jetzt wieder läuft und den Beat für den nächsten Song angibt. “Another Persons Wealth” steht da, immer wieder. So heißt vermutlich auch der Song, der sich langsam vom Drucker emanzipiert und sogar mit die Violine einbezieht. Auch die Klarinette hat einen Auftritt im abwechslungsreichen Set der Kanadierin.

Zum Schluss geht der Vorhang dann doch noch auf, und die leere Tribüne der Halle K6 wird sichtbar. Eingespielter Applaus und Jubel drängen aus den Boxen und den leeren Rängen, die mit lichtdurchflutetem Dunst fast melancholisch wirken, verlassen.

Feist schreitet die Ränge ab und die Zuschauer*innen wenden sich ihr zu. Jetzt steht die Künstlerin im Publikum und das Publikum sitzt auf der Bühne. Was das bedeutet?

Feist zeigt dem Publikum selbst, was leere Ränge bedeuten, die Erinnerung an ungehemmte Euphorie. Schöner hätte man die Bühne und die Live-Musik sicher nicht zurückerobern können.

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