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Jochen Distelmeyer – Gefühlte Wahrheiten

Als in den Neunzigern der Diskurspop zum eigenen Genre avancierte, war Jochen Distelmeyers Expertise dort maßgeblich, Blumfeld federführende Akteure im Kontext der Hamburger Schule.

Der Social-Media-Tsunami hat die faktenbasierte Auseinandersetzung zu Fragen der Zeit längst weggespült, widerstehen „Gefühlte Wahrheiten“ unter dem Eindruck von Klimakrise und Pandemie jeder stichhaltigen Argumentation.

Im Schatten flächendeckend überschrittener, individueller Belastungsgrenzen war „Ich Sing Für Dich“, erste Auskopplung vom neuen Album des Musikers, wie ein empathisches Rettungsboot auf den Wogen der Zerrissenheit dieser Tage unterwegs, in denen die Welt die auf dem Cover illustrierte Spaltung vollzogen hat.

Entfernt von den rhetorischen Exkursen früher Tage, bleibt er mit seinen 12 aktuellen Kapiteln analytischer Beobachter, der mit entwaffnender Ehrlichkeit vom Schwebezustand zwischen Hoffnung, fehlendem Mut, Trauer und Wut erzählt, sich dabei „Manchmal“ selbst bis auf die Haut entblättert und dabei wie selbstverständlich Persönliches mit dem großen Ganzen poetisch verknüpft.

Die Einladung „Komm (So Nah Wie Du Kannst)“ groovt zu Beginn wie ein „Tausend Tränen Tief“ – Remake, erzählt dabei wieder „ein Lied von zwei Menschen“ und „wie Liebe sich anfühlt“, bevor sich das Stück verdichtet, um eine satt orchestrierte Sogwirkung zu generieren.

Im sommerlichen Pop-Modus berichtet „Zurück Zu Mir“ von denen, die seine Frage „Wohin Mit Dem Hass?“ in der Anonymität des Netzes beantworten, könnte das Stück, wäre „Testament Der Angst“ nicht schon veröffentlicht, nicht nur wegen dem an „Anders Als Glücklich“ erinnernden Damenchor, ein Teil jener Blumfeld-Ausgabe sein.

Wie bereits für „Songs From The Bottom Vol. 1“ hat Produzent Swen Meyer die differenzierten Arrangements aus R&B, Soul und Blues in stimmiges Licht gesetzt, schickt „Im Fieber“ schwungvoll auf „Lass Uns Liebe Sein“ – Spuren ins Rennen, treibt der Funk „Tanz Mit Mir“ durch eine lange Disconacht.

Kontrastiert wird die musikalische Leichtigkeit von den englischsprachigen (eine Premiere!) Distelmeyer-Kompositionen „Gone Girl“ und „Roads Of Regret“, die in Singer/Songwriter-Ästhetik eine sanftere Gangart bevorzugen, und von „The Reason“, mit dem ein Ausflug in Country-Gefilde gelingt.

„Dann gehe ick raus und kieke/Und wer steht draußen? Icke.“ sprach der Protagonist einst durch den „Verstärker“, auch dato tritt er vor die Tür um mit „Nicht Einsam Genug“ ein abgeklärtes, elfminütiges Traktat zu Vereinzelung und Selbstsucht zu proklamieren, auf dessen Fragen selbst Gottes Sohn die Antwort schuldig bleibt.

Dass wegen diesem desillusionierten Opus nicht jeder physischen Verkaufseinheit von „Gefühlte Wahrheiten“ das darin besungene Taschentuch beiliegen muss – dafür sorgt, dass Jochen Distelmeyer mit seinen Liedern dato einmal mehr Liebe und Hoffnung im Sturm gesellschaftlicher Zerwürfnisse verankert.

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